Es ist ein Dialog. In jeweils vier Versen sprechen ein Mädchen und der personifizierte Tod (Knochenmann) miteinander. Das Mädchen hat Angst vor dem Tod, doch der spricht beruhigend auf es ein und versichert ihm, ein Freund zu sein.
Das Gedicht sagt nichts darüber aus, was dann weiter geschieht. Der Dichter, der selbst tief christlich geprägt war, enthält sich irgendwelcher Ankündigungen, Versprechungen oder Spekulationen. So behandelt das Dialog-Gedicht das neben „Der Mond ist aufgegangen" zu den bedeutendsten von Matthias Claudius gehört, kein religiöses oder eschatologisches Thema. Es wirkt deshalb so nachhaltig, weil der Tod für alle Menschen ein radikal ergreifendes Schicksal ist, und weil es sich in diesem Fall bei dem Dialogpartner um ein unschuldiges Mädchen handelt.
Das Motiv „Tod und junges Mädchen" ist in der bildenden Kunst, Musik und Literatur schon seit der Renaissance-Zeit verbreitet. Dabei tritt der Tod auch als Verführer oder Geliebter des Mädchens in Erscheinung. Das legt den Gedanken nahe, dass es sich beim Thema tiefenpsychologisch nicht um das Problem der Angst vor dem Sterben handelt. Vielmehr wirft es die Frage auf: Warum ist die ängstliche Person ein unschuldiges Mädchen bzw. eine junge Frau und kein Erwachsener und könnte der tröstliche „Knochenmann" vielleicht nur den „kleinen Tod" * im Sinn haben? In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass der Maler Hans Baldung Grien (1484-1545) auf seinem Gemälde „Der Tod und das Mädchen" (1517) zum ersten Mal in der jüngeren Kunstgeschichte eine weibliche Person mit Schamhaar dargestellt hat. War das wichtig für deren Tod?
Florian Russi
Das Mädchen:Vorüber! Ach vorüber!Der Tod:
Geh wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen.
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* Als „Kleiner ‚Tod" (La petite Mort) wird im Französischen der Orgasmus bezeichnet.
Vorschaubild: Hans Baldung Grien: Der Tod und das Mädchen, 1517. (Heutiger Standort:
Kunstmuseum Basel). Bildquelle: Wikimedia Commons.