Eine der bekanntesten und beliebtesten Dichtungen Goethes ist das Heideröslein. Er verfasste es in seiner Straßburger Studentenzeit (1770/71), während der er sich in die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion verliebt hatte. Das Gedicht wird daher auch der „Sesenheimer Lyrik" zugeordnet. Es ist an die hundert Mal vertont worden, unter anderem von Franz Schubert und Franz Lehár. Die hier vorliegende Melodie stammt von dem Komponisten Heinrich Werner (1800-1833). Sie ist die bis heute populärste.
Der Text ist vielseitig gedeutet worden. Einige Interpreten wollen ihn als die Schilderung einer Vergewaltigung verstanden wissen. Die jedoch passt nicht zu dem, was wir von Goethes Beziehung zu Friederike Brion kennen. Außerdem ist die Sprachmelodie zu schön, um sie mit so niederträchtigen Vorstellungen in Verbindung zu bringen.
Der Knabe erwacht zum Mann, entdeckt die Reize weiblicher Schönheit und will sie in Besitz nehmen, ohne dabei an Verantwortung zu denken. In dieser Hinsicht ist er noch wie ein Kind, das ohne sich Gedanken zu machen, Blumen pflückt oder interessante Dinge an sich reißt.
Der Knabe erobert das Mädchen und nimmt es sich ohne schlechtes Gewissen. Sie wehrt sich, sticht, doch nicht er, sondern sie muss leiden. Ihr ergeht es ähnlich wie später Fausts Gretchen. Sie wird „ewig" an den Knaben denken, nicht er an sie (bestenfalls an den Spaß, den er mit ihr hatte).
Aus heutigem Verständnis kann man das Heideröslein nur als Spiegelbild vergangener Gesellschaftordnungen akzeptieren. Zynisch klingt der Schlusssatz: „musst´es eben leiden." Er erinnert an den römischen Feldherrn Octavian, den späteren Kaiser Augustus, der eine Strafaktion gegen unschuldige Soldaten anordnete und zu ihnen sagte: „da müsst ihr eben mal sterben" („moriendum est").
Florian Russi
*****
Lied eingespielt von Tiffany Tabbert