Die Gans
Gotthold Ephraim Lessing
Die Federn einer Gans beschämten den neugeborenen Schnee. Stolz auf dieses blendende Geschenk der Natur, glaubte sie eher zu einem Schwane, als zu dem was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich von ihres gleichen ab, und schwamm einsam und majestätisch auf dem Teiche herum. Bald dehnte sie ihren Hals, dessen verräterischer Kürze sie mit aller Macht abhelfen wollte. Bald suchte sie ihm die prächtige Biegung zu geben in welcher der Schwan das würdigste Ansehen eines Vogels des Apollo hat. Doch vergebens er war zu steif, und mit aller ihrer Bemühung brachte sie es nicht weiter, als dass sie eine lächerliche Gans ward, ohne ein Schwan zu werden.
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Textquelle: - entnommen aus dem Buch; Jürgen Krätzer, „Kennst du Gotthold Ephraim Lessing?", Bertuch Verlag GmbH Weimar, 2015, ISBN: 978-3-86397-44-4
Teaserfoto: pixabay, Urheber des Bildes: OpenClipartVectors; neu bearbeitet von Kati Spantig (gemeinfrei, kein Bildnachweis nötig)
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