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Friedrich W. Kantzenbach
Wüsst ich Dinge leicht wie Luft

Dieses Gedichtsbändchen ist liebevoll gestaltet und mit Fotos versehen. Es wendet sich an Leser, die bereit sind, aufmerksam hinzuhören und sich einzulassen auf die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schicksal.

Die pestkranken Tiere

Die pestkranken Tiere

Jean de La Fontaine

Eine nie gekannte Epidemie breitete sich unter den Tieren aus: die Pest. Die Tiere litten sehr. Es gelang ihnen nicht, die Krankheit zu besiegen. Im Gegenteil wütete sie immer grausamer unter den armen Tieren.

Da trat der Löwe auf und verkündete: „Es ist Gott, der uns mit der Pest für die vielen Sünden bestraft, die wir begangen haben. Uns bleibt nur ein Weg. Wir müssen uns zu unseren Freveln bekennen, und der von uns am meisten gesündigt hat, sollte bereit sein, für uns alle sein Leben zu opfern. Das wird Gott milde stimmen und mit uns versöhnen. Als euer König und Vorbild will ich damit beginnen und meine Sünden offenbaren: Ich gestehe, dass ich immer wieder unschuldige arme Schafe gerissen und einmal über einen Hirtenjungen hergefallen bin und auch ihn gefressen habe.“

Nachdem er dies gesagt hatte, forderte der Löwe die anderen Tiere auf, nun ihrerseits ihre Verfehlungen zu gestehen. Da trat der Fuchs vor und sagte: „Sire, Ihr seid ein guter Fürst und Eure Rede zeugt von großem Ehrgefühl und edlem Denken. Doch sehen wir keine Schuld bei Euch. Schafe zu fressen, dieses dumme Pack, ist keine Verfehlung. Im Gegenteil war es eine Ehre für sie, von Euch gewürgt zu werden. Dass Ihr den Hirtenjungen gefressen habt, geschah dem zu Recht. Was bildete der sich ein, sich die Herrschaft über die Tiere anzumaßen.“

Da jubelten die anderen Tiere, die es hörten, und eines nach dem anderen trat vor, berichtete aus seinem Leben und verharmloste seine Untaten. Niemand wagte es mehr, einem anderen, nicht einmal dem Tiger oder Bären, ein Unrecht nachzusagen. Schließlich kam der Esel an die Reihe und bekannte: „Als ich einmal an einer Klosterwiese vorbeigelaufen bin, haben mich der Hunger, das frische Gras und, wie ich glaube, auch der Teufel dazu verführt, die Wiese abzufressen. Ich muss gestehen, dass ich dazu kein Recht hatte.“

Da stürmten die anderen Tiere auf ihn ein. Der Wolf machte sich zu ihrem Sprecher und erklärte: „Da haben wir den wahren Übeltäter, den räudigen Lumpen, der das ganze Übel über uns gebracht hat: Zum Tod sei er verdammt, ob seiner Schwächen. Zu fressen fremdes Gras! Welch schmähliches Verbrechen!“

Alle waren sich einig: Der Esel ist es, der geopfert werden muss.

Fazit: Wenn Schuldige gesucht werden, sind meistens die Schwächsten dran.

 

*****

nacherzählt von Florian Russi

Bild: Pixabay, gemeinfrei

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