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Tee mit der Königin

Kurzgeschichten aus Wales herausgegeben und übersetzt von Frank Meyer und Angharad Price.

Der Missbrauch

Der Missbrauch

Florian Russi

Der Direktor einer Schule stand in hohem Ansehen. Eltern drängten ihn, ihre Kinder aufzunehmen. Die Wartelisten waren lang. Wer an dieser Schule seinen Abschluss gemacht hatte, galt als Hoffnungsträger für eine große Karriere.

Die Schule gab strenge Prinzipien vor: Anstand, Aufrichtigkeit, Disziplin und Selbstbeherrschung, Edelmut.

Viele Jahre lang hörte man nur Gutes von ihr, doch eines Tages trafen sich fünf ehemalige Schüler und tauschten ihre Erfahrungen aus. Da erzählte einer von ihnen:

„Unser Direktor war zwar ein guter Lehrer, aber er hat gerne gezüchtigt. Ich gebe zu, ich war kein braves Kind, er aber hat das zum Anlass genommen, mich immer mal übers Knie zu legen und mir den nackten Hintern zu verhauen. Anschließend hat er mir eine Versöhnung angeboten und sich von mir sexuell befriedigen lassen.  Ich gebe zu, bis heute mit dieser Erfahrung nicht klargekommen zu sein.“

„Was du da sagst“, entgegnete ein anderer, „habe ich ganz ähnlich erlebt. Ich habe mich nie getraut, darüber zu reden. Der Direktor war für mich eine unumstößliche Autorität. Als ich gegenüber meinem Vater einmal eine leichte Kritik an ihm geäußert habe, gab der mir eine Ohrfeige.“

Nachdem die beiden ehemaligen Schüler so offen über ihre Erfahrungen berichtet hatten, fassten auch die anderen drei den Mut und berichteten, dass der Direktor sich auch an ihnen vergangen hatte. Einer von ihnen war Journalist und berichtete, ohne Namen zu nennen, in seiner Zeitung von den Vorwürfen gegen den Direktor. Der Skandal flog auf, es meldeten sich weitere ehemalige Schüler zu Wort und bestätigten die Vorwürfe.

Erst leugnete der Direktor, dann aber trat er die Flucht nach vorne an und erklärte:

„Ich bin selbst streng erzogen worden und stehe hundertprozentig hinter den Idealen unserer Schule. Aber ich bin auch Mensch und habe menschliche Schwächen. Gelegentlich bin ich bei meinen Erziehungsmaßnahmen zu weit gegangen. Das tut mir leid, gerne würde ich es ungeschehen machen."

Es fand eine Versammlung mit Schülern und Eltern statt, bei welcher der Direktor die Ideale der Schule in hohen Tönen lobte und erklärte, wie wichtig der Anstand im Leben sei.  Er sprach von den hehren Zielen, die ein Mensch sich setzen müsse, aber auch davon, dass leider der Geist zwar willig, das Fleisch aber schwach sei.  

Da trat einer aus der Runde der Alt-Schüler vor und entgegnete:

„Sie haben den Anstand von ihren Schülern verlangt und, wenn sie Ihrer Meinung nach dagegen verstoßen haben, sich als höchst unanständiger Mensch gezeigt. Das war pervers. Menschliche Schwächen kann man verzeihen, aber die Zerstörung der Seelen anderer Menschen ist keine Schwäche sondern  brutale Aggressivität. Wenn Sie solche Neigungen an sich festgestellt haben, hätten Sie niemals Lehrer oder gar Direktor an dieser Schule sein dürfen.“

Fazit: Das Böse ist keine Schwäche, sondern ein zu bekämpfendes Syndrom.

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Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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