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Gerhard Klein
Berlin-Skizzen

Die deutsche Hauptstadt in achtzehn Bildern. Die liebevoll gestalteten Zeichnungen geben einen einzigartigen Blick auf die Metropole an der Spree. Neben bekannten Bauwerken wie Reichstag und Gedächtniskirche hat Architekt Gerhard Klein auch sehenswertes wie den Eingang des Berliner Zoos oder das Bode Museum in Bild eingefangen. Den Zeichnungen ist ein informativer Text zur Sehenswürdigkeit beigeordnet.

4,9 Prozent

4,9 Prozent

Florian Russi

Es war ein Land, das viele bewunderten, seinen Menschen ging es gut, sie wurden erfolgreich regiert, mal von den Rechten, mal von den Linken. Es ging ständig aufwärts und die meisten Bürger waren mit ihrem Schicksal zufrieden. Das Land schien gesegnet.

Doch plötzlich und unerwartet brach eine Epidemie aus, die sich niemand richtig erklären konnte. Führende Virologen wurden um ihren Rat gefragt, doch sie wurden sich nicht einig.

Niemand kam auf die Idee, auch die Psychotherapeuten des Landes hinzuzuziehen. Denn kaum schien die Epidemie halbwegs bewältigt, da stritten nicht nur die Virologen, sondern auch alle Bürger mit und untereinander. Nirgendwo gab es Einigkeit. Demagogen traten auf und scharten Anhänger um sich. Es ging nicht mehr um Inhalte und Logik, sondern um Gefühle und Vermutungen. Allgemein war die Vermutung, dass diejenigen, die nicht zur eigenen Gruppe gehörten, nur Böses im Schilde führten.

Leider bestand diese Vermutung teilweise zu Recht. Doch niemand war da, der darüber entscheiden konnte. Einige Wissenschaftler setzten ihre Hoffnungen auf die bevorstehenden Parlamentswahlen. In der Politik war man wie in der gesamten Gesellschaft heftig zerstritten. So traten insgesamt 22 Parteien zur Wahl an. Das Ergebnis war, dass keine von ihnen mehr als 4,9 % der Wählerstimmen erreichte.

Da aber nach den Wahlgesetzen ein Mindestquorum von 5 % vorausgesetzt war, bedeutete das, dass keine der Parteien ins Parlament einziehen konnte. Das Parlament blieb unbesetzt.

Als letzte Amtshandlung setzte die amtierende Regierung daraufhin Neuwahlen an. Wieder stritten alle, doch ein Demagoge hob sich heraus und verspracht: „Ich werde das Land wieder großmachen.“ Viele, die verzweifelt waren, glaubten ihm. So erreichte seine Partei bei der Neuwahl immerhin 9 % der Stimmen und als einzige mehr als 4,9 %. Deshalb fielen ihr alle Parlamentssitze zu. Der Demagoge versprach, alles für das Volk zu tun und setzte deshalb als erstes alle Gesetze, die ihm widerstrebten, außer Kraft. Dann erklärte er: „Um das Land wieder groß machen zu können, muss ich erst selbst einmal noch größer werden als ich ohnehin schon bin.“ Dann begann er, alle diejenigen zu verfolgen, die sich ihm entgegenstellten. Als die den Obersten Gerichtshof des Landes anriefen, setzte er deren Richter ab und berief andere, die ihm ergeben waren.

Der Demagoge sonnte sich in seiner Willkür. Wo man sich ihm widersetzte, setzte er Feuer ein. Es gab Tote und Verletzte.  Es hätte kaum schlimmer werden können. Doch die Toten konnten sich nicht mehr wehren und die Verletzten trauten sich nicht mehr.

Fazit: Widerstehe den Anfängen und ziehe auch immer den Verstand zu Rate.

 

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Vorschaubild: photos/stift-rotstift-ankreuzen-wahl-2181101/, Urheber: Leopictures auf Pixabay.

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