David Kalisch war Mitbegründer der Zeitschrift Kladderadatsch, für die er 24 Jahre lang arbeitete. Kalisch beschäftigte sich in seinen Stücken hauptsächlich mit dem Berliner Milieu und wurde damit sehr bekannt. Die „Rezension" zeigt, dass er sich auch mit „Kollegen" befasste.
Hannelore Eckert
Die Veranlassung zu diesem im Jahre 1785 entstandenen Gedichte fand der Verfasser bekanntlich in der damals herrschenden Gespensterfurcht, welche er nicht ohne Glück bekämpfen wollte. Diese gute Absicht aber ist es nicht allein, welche das schwache Produkt entschuldigen läßt.
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?"
beginnt Herr Goethe, um die Neugier des Lesers rege zu machen, und beantwortet dieselbe sogleich durch die triviale Antwort:
„Es ist der Vater(?) mit seinem Kind!"
Aber wer ist der Vater? Wie heißt er? Besitzt er Vermögen? Was reitet er? Reitet er nur auf einem Prinzip oder auf einem Schimmel? Wohin reitet er? Wie reitet er? Hat er überhaupt Reitunterricht genossen? Alle diese Fragen, zu denen der gebildete Leser sich wohl berechtigt fühlt, läßt der Verfasser in seiner lüderlichen Schreibweise gänzlich unbeantwortet. Er sagt weiter nichts als:" der Vater reitet mit seinem Kind", was allerdings nicht auf glänzende Vermögensverhältnisse schließen läßt, da der Vater sonst wohl dem Knaben einen Pony halten würde, auf dem dieser neben ihn hertraben könnte.
Dem sei jedoch, wie ihm wolle:
„Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm".
„Er hält ihn warm!" Wie kleinlich! Wie abgeschmackt! Weil neulich die Zeitungen einen längeren Artikel über die Verhaltensregeln gegen die Brechruhr brachten, worin besonders den Eltern anempfohlen wurde, die Kinder warm zu halten, gleich will der Herr Verfasser seine Belesenheit zeigen und rühmt von der Zärtlichkeit des Vaters: „Er hält ihn warm!"
Eitler Wissensprunk!
„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?"
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?"
„Den Erlenkönig mit Kron`und Schweif?"
„Mein Sohn es ist ein Nebelstreif!"
Dieser Dialog zwischen Vater und Sohn, ohne besondere Angaben der Personennamen, wie es wohl üblich, entbehrt aller Pointen und jeder künstlerischen Ausführung. Vor allem aber fragen wir uns: Wer ist denn eigentlich dieser Erlenkönig? Der Leser kennt wohl den Schellenkönig, Eichelkönig; aber Erlenkönig ist ihm wahrscheinlich gänzlich unbekannt. Der „Vater" erklärt ihn für einen Nebelstreif, indem er noch die Bemerkung hinzufügt:
„In dürren Blättern säuselt der Wind,"
eine hinlänglich bekannte Tatsache, die wohl nirgends mehr Interesse erregen kann!
„Willst feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön!"
In der Tat, die Feder sträubt sich, die Verse wiederzugeben. Was soll man zu dieser Stelle
sagen, wenn man bedenkt, daß Goethes Gedichte in den Händen junger Leute beiderlei Geschlechtes sind?
„Willst, feiner Junge oder Knabe usw." ist eine Redensart, wie sie wohl nur übelber&uumuuml;chtigte Frauenspersonen in den Mund zu nehmen pflegen; und hier, horribile dictu! Ladet der eigene Vater, auf offener Straße, einen jungen Menschen ein, seine Töchter zu besuchen! Pfui!
Nur wenig gemildert werden diese groben Unsittlichkeiten durch die warnende Stimme des Vaters:
„Es scheinen die alten Weiden so grau!"
Wiederum ein so bekanntes Faktum, daß dessen Mitteilung, gelinde gesagt, überflüssig erscheint.
Man erlasse es uns, den ferneren Teil des Gedichtes kritisch zu zerlegen. Nur noch eine Bemerkung. Um recht vornehm zu schließen, läßt Herr Goethe den Vater den „Hof" erreichen. Wenn damit der Weimarische Hof, an dem der Verfasser einige Zeit gelebt hat, gemeint sein soll, so können wir versichern, daß in der Geschichte desselben von Vehse keine Silbe von diesem Kinderritt erwähnt, und das Ganze wahrscheinlich nur eine der vielen tendenziösen Erfindungen des Herrn Goethe ist.
Wende sich doch der Verfasser einer ernsteren und sittlicheren Richtung zu, und wir werden gewiß die ersten sein, seinem hübschen Talente Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
----
Textquelle: Aus „Die Großmeister des Berliner Humors" herausgegeben von Dr. Adolph Kohut, Berlin 1915, A. Hoffmann & Comp.