Riesen - Land
Florian Russi
Macht, Gewalt und Geschlechterkampf
Die folgende Erzählung befasst sich auf heiter-ironische Art mit der Macht und den Mächtigen, der Gewalt und dem Kampf der Geschlechter. Sie ist unter dem Titel „Zwei Riesen kämpfen um das Land" erstmals 2004 in der Sammlung „Der Drachenprinz - Geschichten aus der Mitte Deutschlands" erschienen.
Kati Spantig
In alter Zeit herrschte in seinem Schloss in Ebeleben der Riese Belo. Das Schloss war so gewaltig, dass man es vom Inselberg und auch vom Brocken aus mit bloßem Auge sehen konnte. Als es später zerstört wurde und zerfiel, benutzten die Menschen seine Steine, um damit die Stadt Erfurt aufzubauen. Noch heute finden die Bauern Reste des Bauwerks in ihren Äckern.
Belo war ein mächtiger König. Er regierte ein Land, das bis Polen und nach Bayern reichte. Er wurde bewacht von einer Leibgarde, die ebenfalls aus Riesen bestand. Wenn er mit ihnen über die Felder und Fluren schritt, zitterten die Bauern vor Furcht. Niemand gab ihm je eine Widerrede. Dreiviertel des Jahres verbrachten die Bauern damit, für Belos Küche zu arbeiten. Nur ein Viertel der Zeit blieb ihnen für die Bedürfnisse ihrer Familien.
An einem Mittag konnten Belo und seine Riesen-Garde eine ganze Schweineherde vertilgen, und wenn sie dann immer noch Hunger hatten, griffen sie sich ein paar Bauern und fraßen sie schmatzend auf.
Belo hatte zweimal geheiratet. Aus der ersten Ehe stammte seine Tochter Jula, aus der zweiten Ehe sein Sohn Piso. Als Jula zu einer stattlichen Riesin herangewachsen war, wollte Belo sie verheiraten. Auch in den Nachbarländern herrschten Riesen, und viele von ihnen hatten Söhne im heiratsfähigen Alter.
Also sandte Belo Boten an die anderen Königshöfe und ließ mitteilen, dass der erste Prinz, der in seinem Schloss eintreffen und um Julas Hand anhalten würde, seine Tochter bekommen und seinen Thron erben werde.
Als erster kam der junge Prinz Eron auf Schloss Ebeleben an. Der war ein schöner Riese von stattlicher Figur. Als er aber Jula das erste Mal sah, erschrak er nicht wenig. Jula war selbst für Riesenbegriffe außerordentlich groß und kräftig. Verächtlich schaute sie auf Eron herab und fragte: »Wie willst du mich von dir überzeugen, du Schlappschwanz?« Dann ergriff sie ihn am Arm, führte ihn unsanft zum Schlosstor und beförderte ihn mit einem Tritt ins Freie.
»Ich werde niemanden heiraten, der mir nicht mindestens ebenbürtig ist« sagte Jula zu ihrem Vater. Doch alle Prinzen und Landgrafen aus Riesengeschlechtern, die bei Jula vorstellig wurden, konnten sie nicht zufrieden stellen und waren ihrer ungeheuren Kraft nicht gewachsen.
So blieb Jula allein und unverheiratet.
Als ihr Vater Belo eines Tages von einer Reise zurückkehrte, schlang Jula ihre Arme um ihn und sagte: »Du bist der einzige Mann, vor dem ich Achtung habe.« Sie umarmte ihn so heftig, dass sie ihm die Rippen brach, worauf der inzwischen gealterte Riese sein Leben beendete.
Nun erklärte sich Jula zur neuen Königin und löste mehr Furcht aus im Lande, als ihr Vater dies je getan hatte. Niemand wagte ihr zu widersprechen, obwohl bis dahin auf Schloss Ebeleben immer nur die männliche Erbfolge gegolten hatte. »Diese Zeiten sind vorbei!«, erklärte Jula. »Von jetzt an bestimmen die Frauen im ganzen Land. Nur noch sie dürfen Waffen tragen, und wenn sie einem Mann begegnen, müssen sie ihn - wie es sich für eine Kavalierin gehört - als erste grüßen. Jeder Verstoß gegen diese Anordnung wird grausam von mir bestraft.«
So richteten sich Riesen und Menschen auf das neue Regiment ein. Manche Männer waren froh, dass sie nun nicht mehr so viel Verantwortung tragen mussten. Doch als die Frauen dazu übergingen, ihre Männer bei kleinsten Vergehen und Nachlässigkeiten zu verprügeln, da litten diese doch unter der neuen Herrschaft und sehnten deren Ende herbei.
So ging es einige Jahre. Inzwischen war Piso, Belos Sohn, zu einem beachtlichen Riesen herangewachsen. Er ging zu seiner Halbschwester und sagte: »Ich bin der einzige männliche Nachfolger Belos und damit auch der Thronerbe. Nun, da ich volljährig bin, musst du mir Platz machen.«
»Ha, ha, ha! Was soll ich?" erwiderte sie herablassend und gab ihm eine Maulschelle, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Gegen solch ein Hünenweib hatte auch er keine Chance. Deshalb lief er davon und flüchtete zu Verwandten.
Dort entwickelte er einen unbändigen Appetit und stärkte seinen Körper, indem er schwere Felsbrocken aufhob und diese nach Menschen und Tieren schleuderte.
Als er sich stark genug fühlte, ging er wieder zu seiner Schwester und sagte: »Nun ist es an der Zeit, überlasse mir den Thron.« Jula wollte wieder mit der Hand ausholen, doch Piso ergriff diese und verdrehte sie, so dass Jula vor Schmerzen aufschrie. »Komm mit mir ins Freie«, rief sie, »dort wollen wir kämpfen und feststellen, wer der Stärkere von uns beiden ist!«
So taten sie und balgten und schlugen sich, dass die Erde dröhnte und die Fetzen flogen.
Nach stundenlangem Kampf überwältigte beide die Müdigkeit. Wie ohnmächtig sanken sie, verbissen einander festhaltend, zu Boden. Sie fielen in tiefen Schlaf, aus dem sie gleichzeitig wieder erwachten. Dann setzten sie die Rauferei fort, bis ihre Kräfte aufs neue schwanden und sie beide wie leblos auf dem Boden lagen, um anschließend wieder aufzuwachen und den Kampf fortzusetzen.
So ging es über mehrere Tage, und als dann immer noch kein Sieger feststand, sagte Piso: »Das Land ist so groß. Lass es uns teilen. Was hinter meinem Rücken liegt, gehört mir, was hinter deinem Rücken liegt, soll dir verbleiben.«
Jula hatte keine Energie mehr und erklärte sich deshalb mit Pisos Vorschlag einverstanden.
Von da an gab es doppelte Arbeit für die im Lande lebenden Bauern. Denn auch Piso ließ sich ein großes Schloss bauen, und die Einwohner des Landes mussten nun für zwei Hofhaltungen aufkommen.
Jula regierte den Norden, Piso den Süden des Landes. Im Norden galten weiterhin Julas Gesetze. Für den Süden dagegen verfügte Piso, dass nur die Männer bestimmen und Waffen tragen durften und die Männer die Frauen als erste zu grüßen hatten. Zuwiderhandlungen stellte er unter Todesstrafe.
Die Bürger und Bauern fügten sich, und so schlugen nach einiger Zeit im Norden die Frauen ihre Männer und im Süden die Männer ihre Frauen.
So ging es einige Jahre, und jeder fand das in Ordnung.
Da verliebte sich Piso in eine der Hofdamen Julas, doch Jula verbot ihm den Umgang mit ihr. Da rief Piso: »Was bildest du dir ein. - Bin doch ich der eigentliche Erbe unseres Vaters Belo.«
Wieder kam es zum Kampf zwischen Jula und Piso. Sie rissen sogar Bäume aus und schlugen damit aufeinander ein. Wieder gab es keinen Sieger. Wieder schlug Piso vor, die Herrschaft über das Land zu teilen. Doch um Julas Hofdame zu bekommen, hatte er diesmal seinen Rücken gegen Norden gedreht, und so gehörte von nun an das bisher von Jula regierte Land ihm, das von ihm bisher beherrschte fiel an Jula.
Die Gewohnheiten wurden umgestellt. Im Norden durften von nun an nur mehr die Männer Waffen tragen und mussten, wenn sie einer Frau begegneten, diese als erste grüßen. Im Süden war es umgekehrt. Jedermann folgte den Anweisungen. Und wenn im Süden ein Mann in alter Gewohnheit seine Frau schlug und im Norden eine Frau ihren Mann oder im Süden eine Frau als erste einen Mann grüßte, im Norden aber ein Mann eine Frau, so hatte dies für die Betreffenden schlimme Folgen.
Jula und Piso schienen Gefallen an ihren Raufereien zu finden, denn schon bald darauf stritten sie aufs Neue. Diesmal hatte Piso seinen Rücken dem Westen zugedreht, und so fiel der Westen an ihn und der Osten an Jula. Wieder wurden die Gesetze angepasst, abermals mussten die Untertanen sich fügen.
So ging es weiter, und nach einiger Zeit gelangte der Osten unter die Herrschaft Pisos und der Westen unter die Julas.
Nach einem weiteren Kampf fiel an Piso der Nordwesten und an Jula der Südosten. Die Landesteile und die Bewohner wurden immer wieder neu verteilt, die Menschen wussten nicht mehr, woran sie waren. Das Hin und Her wollte kein Ende nehmen. Das Gesinde der Riesen und die Menschen litten gleichermaßen.
Da besannen sich einige Bürger, dass im Thüringer Wald, nahe Masserberg, Hilas, ein weiser alter Riese lebte. Sie beschlossen, ihn um Rat zu fragen.
»Wenn Piso den Thron für sich allein beansprucht und Jula keinen Prinzen zum Mann nehmen will, der schwächer ist als sie, wäre es das beste, wenn die beiden heiraten würden«, meinte Hilas.
»Das kann nicht sein«, antworteten die Bürger. »Die beiden sind Halbgeschwister.«
»Geht es euch um Eure Probleme oder um die der beiden Kampfhähne?« erwiderte da der alte Riese. »Wenn die beiden sich finden, sollte es euch recht sein. Es mag nicht der allgemeinen Moral entsprechen und auch nicht gut sein für das Erbgut der Kinder, doch nur so kriegen wir Frieden ins Land.«
Die Bürger nickten zustimmend und baten Hilas, Piso und Jula von seiner Idee zu überzeugen.
»Auch Piso ist mir nicht stark genug«, sagte Jula, als Hilas ihr seinen Vorschlag unterbreitete. »Er hat mich bisher noch niemals besiegen können.« Da öffnete Hilas eine Flasche mit Wein, die er mitgebracht hatte, und sagte zu Jula: »Lass uns trinken auf deine Unbesiegbarkeit.« Nachdem Hilas getrunken hatte, trank auch Jula von dem Wein. In den aber hatte Hilas ein Mittel gemischt, das die Körperkräfte schwächte, Ich bin sowieso ein alter und schwacher Riese, dachte er bei sich. Mir kann der Trank nicht mehr schaden, doch bei Jula wird das Mittel den Übermut bremsen.
Dann kam Piso hinzu und sagte: »Du wolltest mich sprechen, Hilas. Gib mir vorher aber auch von deinem Wein zu trinken!«
»Erst musst du Jula besiegen«, antwortete Hilas. »Zeig uns endlich, dass du als Belos Sohn deines berühmten Vaters würdig bist.«
Da stampfte Piso mit dem Fuß auf, und ein neuer Kampf zwischen ihm und Jula begann. Jula schrie, kratzte und biss ihn, aber ihre Kräfte hatten nachgelassen. So siegte er, zwang sie auf die Erde und vergewaltigte sie.
Jula wurde schwanger, und kurz darauf heiratete sie Piso, den einzigen, der sie je besiegt hatte. Es wurde eine prunkvolle Hochzeit. Die Weinernte eines ganzen Jahres floss durch die Kehlen der Gäste, und Tausende von Rindern, Schweinen und Gänsen wurden am Grill gebraten.
Als dem Ehepaar nach und nach zehn Kinder geboren wurden, fanden viele weitere Feste statt. Die Hofhaltung nahm zu, und die Bürger und Bauern weinten unter den vielen neuen Lasten. Was nutzte es den Männern, wenn sie jetzt wieder alleine Waffen tragen durften. Sie hatten gar nicht mehr die Kraft dazu.
Da machten sich wieder sieben Bürger zu Hilas auf und sagten: »Du hast es gut gemeint mit deinem Vorschlag, aber wir Menschen leiden jetzt noch mehr als vorher.«
»Ich bin inzwischen so schwach geworden wie ihr«, antwortete Hilas. »Deshalb kann ich mit euch empfinden. Solange es Riesen gibt, werden sie über euch herrschen wollen. Ihr braucht sie nicht, sie schaden euch nur. Schafft sie also ab!«
»Wie soll uns kleinen Menschen das gelingen?«, fragten die Bürger. »Glaubt einfach nicht mehr an sie«, antwortete Hilas. »Erzählt euren Kindern nicht mehr von ihnen. Macht niemandem mehr Angst. Denkt sie euch hinweg und vergesst sie für immer.«
Die sieben Bürger taten, wie Hilas sie geheißen, und schon waren sie unter sich. Hilas war vor ihren Blicken verschwunden. Da zogen sie fröhlich in ihre Städte und Dörfer zurück, und nach und nach überzeugten sie alle Menschen davon, dass es gar keine Riesen gebe.
Viele Generationen lang wurden daher auch den Kindern keine Geschichten mehr über sie erzählt. Und so verschwanden Jula, Piso und all die anderen Riesen ganz plötzlich aus der Welt der Menschen. Erst heute darf bzw. muss man wieder von ihnen berichten.
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Bilder: by Nemo, Pixabay
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