Er ist wie Karl Marx in Trier geboren und hat dieselbe Schule wie dieser besucht. Beide waren Sozialphilosophen, doch ihre Ideen und Konzepte könnten kaum unterschiedlicher sein. Marx wurde zum Gründervater der kommunistischen Ideologie, Nell-Breuning zum bedeutendsten Denker und Nestor der christlichen Soziallehren. Das inzwischen in vielen Staaten der Welt und in vielen Organisationen anerkannte und bewährte Subsidiaritätsprinzip geht wesentlich auf ihn zurück. Subsidiarität bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe. Sie verbindet das Prinzip der Menschenwürde und Selbstbestimmtheit jedes Menschen mit dem der Solidarität, die in der französischen Revolution als Brüderlichkeit, heute eher als Geschwisterlichkeit“ bezeichnet wurde bzw. wird und ohne die ein menschliches Zusammenleben nicht möglich ist.
Nell-Breuning wurde 1890 geboren und starb mit 101 Jahren 1991 in Frankfurt. Dort wirkte er auch die längste Zeit seines Lebens an der vom Jesuitenorden gegründeten Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main. Mit 20 Jahren ist er dem katholischen Jesuitenorden beigetreten und wurde 1921 zum Priester geweiht. Er hatte großen Einfluss auf die Sozialenzyklika (Sendschreiben) „Quadragesimo anno“ („Im vierzigsten Jahr“) des Papstes Pius XI. und hat ebenso auf die folgenden Sozialenzykliken der Päpste Pius XII., Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. eingewirkt. Ziel dieser Enzykliken war es, die katholische Kirche mit der Arbeiterschaft, die sich im Sozialismus oder Kommunismus von ihr abgewandt hatte, zu versöhnen. Nell-Breuning setzte sich für eine Einheitsgewerkschaft ein und plädierte für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben, ohne ein bestimmtes Modell zu präferieren.
Er hat keine eigene Ideologie entwickelt und immer wieder gesagt, dass er in sozialen Fragen keine Ideallösungen anzubieten habe, Er hat Probleme aufgezeigt, mögliche Antworten erwogen und Vorschläge gemacht und diskutiert. Im Ergebnis hat er es den Arbeitgebern und Arbeitnehmern anheimgestellt, sich auf gemeinsame Interessen zu verständigen. Er war kein Revolutionär, dachte aber auch über gesellschaftliche Gegebenheiten hinaus. So vertrat er die Auffassung, dass die bezahlte Arbeit ein Grundrecht für alle Menschen sei. Was die Höhe der Löhne anbelangte, so war er der Meinung, dass es Aufgabe der Tarifparteien (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) sei, diese auszuhandeln. In jedem Fall müsse der Lohn für den Lebensunterhalt des Arbeitnehmers und seiner Familie ausreichen und darüber hinaus etwas für die Vermögensbildung übrig lassen. Wenn durch zunehmende Technisierung die menschliche Arbeitskraft immer weniger gebraucht würde, müsse man die Arbeitszeit bei ausreichendem Lohn für alle verkürzen. In einem Interview sprach er sogar – er nannte es „konkrete Utopie“ – von der Eintagesarbeitswoche. Was aber tun in der übrigen Zeit? Engagement in der Familie, Pflege und Fürsorge, ehrenamtliche Tätigkeiten, Kunst, Spiel, Sport, Lesen und Lernen. Für aufgeschlossene Menschen gibt es immer was zu tun.
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Vorschaubild: Haus am Maiberg, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons