Deutschland-Lese

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Francesco Algarotti

Francesco Algarotti

Gelehrter - Connaisseur - Poet

Klaus-Werner Haupt

In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist der venezianische Kaufmannssohn eine europäische Berühmtheit. 

 

Lady Mary Wortley Montagu

Lady Mary Wortley Montagu

Klaus-Werner Haupt

Eine Frau kämpft für die Pockenimpfung (Variolation)

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts häuften sich die Pocken (Blattern, lat. variolae). Durch Tröpfcheninfektion verbreitet machten sie vor wohlhabenden Personen nicht Halt. William Pierrepont, der jüngere Bruder der Lady Mary, verstarb 1713 im Alter von 20 Jahren, sie selbst erkrankte 1715 an Pocken und büßte ihre makellose Schönheit ein:

„Now beauty´s fled, and presents are no more!“ ( 1 )

Nun ist die Schönheit geflohen, und Geschenke gibt’s nie mehr.

Am 1. August 1716 folgte Lady Mary ihrem Ehemann, dem britischen Botschafter Sir Edward Wortley Montagu (1678-1761), in den Orient. Ihre Beobachtungen widersprachen landläufigen Klischees. Aus der Kaiserstadt Wien wusste Lady Mary zu berichten: „Bis ins 35. Lebensjahr wird eine Frauensperson hier als unausgegorenes Mädchen betrachtet, und sie macht in der Welt auch kein Aufsehen im 40. Für mich [sie ist damals 27] ist es ein großer Trost zu wissen, dass es ein Paradies für alte Frauen gibt. Und ich bin froh, wieder herkommen zu dürfen, wenn ich mich sonst nirgendwo mehr sehen lassen kann. Ich kann nur das triste Schicksal englischer Damen beklagen, die ihre einsame Zuflucht beim Likör nehmen.“ ( 2 )

Kaiserliche Soldaten begleiteten die Entourage des britischen Botschafters bis Peterwardein, von dort wurde sie von Janitscharen nach Belgrad eskortiert. Lady Mary wollte die Stellung der Frau in der osmanischen Gesellschaft ergründen. Nach dem Besuch eines Frauenbades in Sofia erfuhr ihre Schwester, osmanische Frauen – „alle im Naturzustand, das heißt splitterfasernackt, ohne irgendeine Schönheit oder einen Mangel zu verdecken“ – lebten deutlich freier als die englischen. Der Einladung sich ihnen anzuschließen entging die Lady nur, indem sie den Frauen ihr Korsett zeigte, in das sie wie in einen Keuschheitsgürtel eingeschlossen war.

In Adrianopel (Edirne) lernte die Botschaftergattin Türkisch und studierte die osmanische Kultur. Bei Ausflügen stellte sie fest, dass man sich im Orient durch „Impfung“ vor den Pocken zu schützen wusste. Im Brief an einen Freund (ihre Schulfreundin Sarah Chiswell) vom April 1717 heißt es: „Es gibt hier eine Gruppe alter Frauen, die es sich zur Aufgabe machen, die Operation durchzuführen. Jeden Herbst, wenn die große Hitze nachlässt, unterziehen sich Tausende dieser Operation und es gibt kein einziges Beispiel für jemanden, der dabei gestorben ist." ( 3 ) Ältere Frauen boten heranwachsenden Mädchen in einer Nussschale „gutartige Blattern“ an. Lady Mary beobachtete, wie die Frauen mit einer großen Nadel die Haut einritzten – angeblich nicht mehr als ein normaler Kratzer – eine kleine Menge „von dem giftigen Zeug“ hineingaben und die Wunde mit einer halben Nussschale verschlossen. ( 4 )

Die Metropole Konstantinopel (Istanbul) zählte damals etwa 600.000 Einwohner. Da fast jedes zehnte Kind an Pocken starb, befahl Sultan Ahmet III. (1673-1736) im Jahre 1717 eine großangelegte Impfkampagne – Inokulation, später auch Variolation genannt. Eine in der Türkei 1967 herausgegebene Briefmarke erinnert an den 250. Jahrestag dieser bahnbrechenden Methode. ( 5 )

Den Sultan und seine Beamten sah Lady Mary nur aus der Ferne, Intrigen bei Hofe kannte sie lediglich vom Hörensagen. Sie residierte im noblen Botschaftsviertel Pera, wo am 9. Januar ihre Tochter Mary (1718-1794) geboren wurde. Noch im Winter 1718 sollte eine griechische Heilerin dem mitgereisten Sohn Edward (geb. 15. Mai 1713) Pockenviren „einpflanzen“. Allerdings erschrak der Fünfjährige so sehr, dass die anwesenden Ärzte Charles Maitland (1668-1748) und Emmanuel Timoni (1670-1718) die Beimpfung selbst durchführten. Edward erkrankte kurz, blieb aber fortan immun. Ein weiterer Grund für Lady Mary, die Variolation künftig in ihrem Heimatland bekannt zu machen.

Bald darauf wurde der als „turkophil“ geltende Botschafter Sir Edward Wortley Montagu abberufen, im Herbst 1718 kehrte die Familie nach London zurück. Ihre Orienterlebnisse sollten Lady Mary für den Rest ihres Lebens begleiten.

Obwohl in Europa jährlich etwa 15 Prozent der Bevölkerung an Pocken starben, stieß Lady Marys Enthusiasmus auf Unverständnis. Unter dem Pseudonym eines türkischen Kaufmanns, das weder ihr Geschlecht noch ihre Herkunft verriet, warb sie öffentlich für die Variolation: Sie verspreche nicht nur Leben zu retten, sondern auch die Schönheit zu erhalten! 1721 beimpfte Charles Maitland ihre Tochter Mary – mit Erfolg. Eine Vielzahl adliger Töchter folgte diesem Beispiel – bis sich 1723 ein Todesfall ereignete. Für die nächsten 80 Jahre war es mit der Impfbereitschaft vorbei … Impfgegner traten auf den Plan, belächelten das osmanische Prozedere und verspotteten Lady Mary. Letztendlich war es ihr Enthusiasmus, der zur Entwicklung moderner Impfstoffe und späteren Ausrottung der Pocken beitrug.

Der venezianische Aufklärer Francesco Algarotti (1712-1764), in den sich Lady Mary 1736 Hals über Kopf verliebte, fasste seine auf Reisen gemachten Erfahrungen so zusammen:

Aphorismus Nr. 23 ( 6 )

Vom Orient kamen die Pocken und vom Orient kam auch das Heilmittel gegen sie.

Das Heilmittel ist die künstliche Verbreitung der Krankheit, das Einimpfen der Pocken selbst.

Alle Erfahrungen und alle Berechnungen lassen die Impfung

als eines der besten Medikamente erscheinen.


Man wendet sie in Dänemark, in Frankreich und vor allem in England an.

Italien verweigert sich und wird sie vielleicht nie einführen.

Damit in einem ganzen Volk eine Behandlung Fuß faßt,

die ein gewisses Risiko mit sich bringt,

bedarf es der Autorität eines Fürsten oder eines gewissen Mutes im Volk selbst.

 

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Textquelle:

( 1 ) zitiert nach Lonsdale, Roger (Hg.): Eighteenths Century Women Poets. An Oxford Anthology.

Oxford University Press 1990, p. 57.

( 2 ) Zinner, Carola/Plummer, Patricia: Lady Wortley Montagu. Reisebriefe aus dem Orient.

Bayern 2, Sendung radioWissen vom 15.03.2021.

( 3 ) zitiert nach Halsband, Robert: Montagu, Mary Wortley (1965). The Complete Letters of Lady

Mary Wortley Montagu, 1708-1720. Oxford University Press. p. 392.

( 4 ) Marcel Chahrour, Blog: Frühgeschichte des Impfens – Pockenimpfung: Eine britische Lady

trotzt ihrem Schicksal. DER STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. Wien vom 14.1.2021.

( 5 ) istanbultrip.info: Geschichte der Impfung. In : https://istanbultrip.info/geschichte/geschichte-der-impfung-grosser-impfversuch-von-konstantinopel-istanbul/ abgerufen am 18.04.2021.

( 6 ) zitiert nach Haupt, Klaus-Werner: FRANCESCO ALGAROTTI. Gelehrter – Connaisseur –

Poet. Bertuch Verlag Weimar 2021, S. 53.

 

Bildquelle:

( 1) Vorschaubild: George Vertue, Mary Wortley Montagu (1739) via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

( 2 )türkische Briefmarke zum 250. Jahrestag der ersten Pockenimpfung 1967( c ) Katholische Gemeinde St. Paul – Istanbul

( 3 ) S. Hollyer nach J. B. Wandesforde, Mary Wortley Montagu im Orient via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

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