Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Direktorin an der Charité in Berlin, ist nicht nur eine der führenden Long Covid Forscherinnen Deutschlands, sondern auch eine der wenigen Spezialistinnen für das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS). Carmen Scheibenbogen erforscht diese Krankheit seit Jahren und ist oft die letzte Hoffnung für Menschen, die nach einer Corona-Infektion nicht mehr gesund werden. Wir trafen sie in Berlin zu einem Interview.
In Deutschland wurde laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom) die Zahl ME/CFS-Betroffener vor der COVID-19-Pandemie auf etwa 250.000 geschätzt. Weltweit sind etwa 17 Mio. Menschen betroffen. Obwohl von der WHO seit 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft, haben Patient*innen große Schwierigkeiten, überhaupt die Diagnose „ME/CFS“ zu bekommen – Woran liegt das?
Für viele Ärzte zeigt sich ein Krankheitsbild, dessen Symptome auf keine greifbaren organischen Ursachen zurückzuführen sind. Oft wird dann die Diagnose „Somatisierungsstörungen“ gestellt. Diese Diagnose ist für betroffene ME/CFS Patient*innen niederschmetternd, bildet sie doch in keinster Weise die Schwere der Erkrankung und den Leidensdruck ab, dem die Betroffenen tagtäglich ausgeliefert sind, von einer Anerkennung als schwere Erkrankung mal ganz zu schweigen. Aus der Unkenntnis heraus nimmt das Drama dann seinen Lauf mit Therapien, die - basierend auf dieser Fehldiagnose - absolut kontraproduktiv sind: Aktivierende Therapien (z.B. Sport) und zu anstrengende Rehas werden verordnet, obwohl die ME/CFS Erkrankten genau das Gegenteil benötigen – Anstrengungen vermeiden, sich den Alltag einteilen und viel Ruhe.
In unserer heutigen Zeit passt diese Krankheit absolut nicht das Bild einer Leistungsgesellschaft. Die Erkrankung wird oft auf Erschöpfung reduziert. Und Krankheit muss nach außen sichtbar sein, nur dann wird sie auch anerkannt, nur dann kann sich der Kranke des Mitgefühls und der Akzeptanz seines Umfeldes sicher sein. Was macht das mit den Betroffenen?
Diese Menschen sind permanent in Rechtfertigungs- und Erklärungspflicht. Teilweise wird ihnen sogar eine Teilschuld daran unterstellt, dass es ihnen schlecht geht. Die Diagnose Chronisches Fatigue Syndrom ist extrem schwierig, weil sie oft von den Ärzten gar nicht als anerkannt und mit einem falschen „Label“ versehen wird. Denn Erschöpfung ist ein unspezifisches Symptom, welches viele Krankheiten aufweisen. Ich denke da z.B. an Tumorpatient*innen, wo Erschöpfung mit Sporttherapie meist gut behandelbar ist, bei ME/CFS- Patient*innen verschlechtert sich jedoch der Zustand. Für sie ist das auch eine enorme psychische Belastung: Zum einen sind sie schwer krank, zum anderen müssen sie sich ständig ihrer Umgebung erklären.
Auffallend ist, dass seit ca. 2020 die Medien immer mehr und auch ausführlicher über ME/CFS berichten – woher kommt auf einmal diese vermehrte Aufmerksamkeit?
Das Interesse an dieser Krankheit ist seit der Pandemie tatsächlich größer geworden. Das liegt daran, dass in Folge von Covid auch vermehrt ME/CFS auftritt. Davor kannte diese Erkrankung kaum jemand, sie wurde oft auch nicht gelehrt, ist kein Bestandteil des Curriculums, es gab und gibt keine Fachgesellschaften, die sich damit beschäftigen … die Erkrankung ist quasi vergessen worden. Ich kannte sie auch kaum, bis ich die Immundefekt-Ambulanz der Charité übernommen und die Sprechstunden für ME/CFS dort vorgefunden habe. Ich hatte auch gehört: „Das sind schwierige Patient*innen.
Was war Ihre Motivation, sich diesem schwierigen Thema anzunehmen?
Ich habe die Verantwortung für meine Patient*innen und habe gesehen, dass da etwas ganz falsch läuft. Da haben wir junge Menschen, die schwerkrank sind. Die meisten erkranken nach einer Infektion. Die sind nicht depressiv, nicht psychisch auffällig, nicht arbeitsscheu - die tun alles, um gesund zu werden. Ich habe dann begonnen, mich mit der Krankheit intensiv zu beschäftigen, um sie überhaupt erst einmal zu verstehen. Als ich nach Behandlungsmöglichkeiten recherchierte, wurde mir bewusst, dass der internationale Wissensstand nicht größer ist als in Deutschland. Ich beschloss, auch Aufklärung zu betreiben. Bei meinen Vorträgen vor Ärzten wurde ich anfangs oft belächelt oder zynisch gefragt, mit welchem Unfug ich mich hier eigentlich beschäftige. Das hat mich nicht abgehalten, sondern im Gegenteil erst richtig motiviert. Wenn man diese große Not sieht: Menschen, die teilweise berufsunfähig sind und von Sozialhilfe leben, weil ihre Erwerbsunfähigkeit nicht anerkannt wird. Menschen, die sich nicht mehr selbst versorgen können, aber keinen Pflegegrad bekommen, weil die Krankheit vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) nicht anerkannt wird … Das sind Geschichten, Einzelschicksale, deren Dramatik niemandem bewusst ist! Da unsere Sprechstunde an der Charité es kaum schafft, die Patienten aus der Region zu sehen - wir haben in diesem Jahr keine Termine mehr - haben wir auch begonnen, über Fortbildungen unser Wissen weiterzugeben und eine Webseite für Ärzte und Betroffene aufgebaut. (https://cfc.charite.de/)
Bei der Presse und in der Politik scheint das Thema endlich angekommen und verstanden zu sein – wie sieht es mit der Ärzteschaft aus? Können Sie da ein Umdenken beobachten?
Das Interesse an ME/CFS ist inzwischen auch in der Ärzteschaft groß. Früher war ich froh, wenn 20 Ärzte zu unseren Fortbildungen kamen, jetzt haben wir oft über 1.000 Zuhörer. Das macht natürlich Mut und gibt mir die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein und diesen auch weiterzugehen. Hinzu kommt natürlich auch die Digitalisierung, die es enorm erleichtert, Wissen und Informationen zu verbreiten und für große Zielgruppen abrufbar zu machen. Auch dass wir in den letzten Jahren mit dieser Thematik in fast allen wichtigen medialen Formaten präsent waren und noch sind. Dass medizinische Fachzeitschriften sich des Themas annehmen, hilft ungemein, ein Umdenken bei Ärzten zu erreichen, die die Erkrankung noch kaum kennen oder nicht richtig einordnen.
Welche konkreten Vorschläge, wie man unterstützen kann, werden denn in der Politik diskutiert?
Im Januar 2023 wurde ME/CFS im Bundestag thematisiert. Alle Parteien waren sich einig, es muss mehr mit öffentlichen Geldern unterstützt werden, um bessere Versorgungsstrukturen aufzubauen und mehr Therapien zu entwickeln. Der Bundesminister für Gesundheit Karl Lauterbach will den Aufbau spezieller Versorgungszentren an Universitäten fördern. Dafür sollen 2024 40 Mio. Euro bereitgestellt werden. Solche Spezialzentren sind eine wichtige Anlaufstelle für die Patient*innen, die dort eine Diagnostik und Therapiekonzepte bekommen, und in denen Forschung betrieben wird. Darüber hat das BMG eine Infoseite ins Leben gerufen, wo Betroffene und Ärzte informiert werden.
Was den Bereich Forschung und Medikamentenentwicklung betrifft, ist natürlich ein großer Handlungsbedarf. Hier ist auf politischer Seite das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) zuständig, welches in diese Thematik inzwischen auch gut eingedacht ist. Vom BMBF wurde 2022 eine Förderung von 10 Mio. Euro für den Aufbau einer Therapieplattform an der Charité bereitgestellt. Das ist viel und wenig zugleich, Therapiestudien sind unglaublich aufwendig und teuer. Das hängt mit den strengen europäischen Regularien und Verordnungen für klinische Studien zusammen– aber es ist ein wichtiger erster Schritt.
Warum klinkt sich eigentlich die Pharmaindustrie nicht in die Forschung ein? Es wäre für sie doch ein interessanter neuer Markt?
Die haben leider bislang wenig Interesse an klinischen Studien bei ME/CFS und Post Covid. Das Krankheitsbild ist ihnen noch zu diffus und nicht ausreichend verstanden. Ich vermute, dass das finanzielle Risiko einer aufwendigen, teuren Studie ihnen einfach zu groß ist.
Wie ist denn aktuell der Stand der Forschung in anderen Ländern in Bezug auf ME/CFS? Besteht da vielleicht die Möglichkeit, auf Forschungsergebnisse zurückzugreifen und sich in den gegenseitigen Austausch zu begeben?
Ich habe 2015 ein europäisches Netzwerk zu ME/CFS mit initiiert und wir haben dafür auch eine Förderung der EU bekommen. 21 Länder waren daran beteiligt, aber nur eine Handvoll Ärzte und Forscher, die sich mit der Erforschung dieser Erkrankung beschäftigten. In den USA sieht es auch nicht besser aus – es war ein ernüchterndes Ergebnis.
Mit Covid sind jedoch viele Forschungsprojekte angelaufen, die auch eine wichtige Rolle für die ME/CFS Forschung haben. Momentan laufen weltweit etwa 20 Medikamentenstudien. Diese sind zwar in erster Linie für Long Covid Patienten, aber wenn wirksame Medikamente gefunden werden, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie auch für ME/CFS-Patient*innen eingesetzt werden können.
Wie steht es mit der psychotherapeutischen Versorgung Ihrer Patient*innen?
Die Erkrankung bedeutet tiefgreifende Einschnitte in das Leben. Nichts ist mehr so wie es einmal war, es ist sozusagen der komplette Verlust des alten „normalen“ Lebens. Diese Patient*innen brauchen oft auch psychologische/ psychotherapeutische Betreuung und Begleitung wie z.B. Krebspatient*innen. Die Erkrankten müssen lernen, sich zurückzunehmen und gegebenenfalls die Nichtakzeptanz ihres Umfeldes auszuhalten - das muss sich auch mehr in den psychotherapeutischen Konzepten wiederfinden.
Was braucht es mit Ihrem Erfahrungshintergrund an konkreter Hilfe/Unterstützung?
Eigentlich brauchen wir das Rad nicht neu erfinden. Wir brauchen einfach nur die gleichen Strukturen, die wir für Patient*innen mit vergleichbaren Erkrankungen haben. Nehmen wir z.B. Multiple Sklerose (MS). Es gibt MS-Zentren mit einer kompletten Infrastruktur, von der Diagnose über die Behandlung, bis hin zur Betreuung und Begleitung durch die Hausärzte. Genau so etwas wünsche ich mir für die ME/CFS Patient*innen! Wir brauchen ein besseres Verständnis für die Erkrankten und ihre Bedürfnisse; wir brauchen die schon erwähnten Versorgungszentren; wir brauchen eine andere und bessere Vergütung der Patient*innen, da die Betreuung aufwändig ist. Wir brauchen die Anerkennung der Erkrankung in der breiten Öffentlichkeit und bei sozialmedizinischen Entscheidungsträgern. Und wir brauchen finanzielle Unterstützung und das gesellschaftliche Bewusstsein und die Akzeptanz, dass es eine ernstzunehmende Krankheit ist, die unverschuldet kommt und die jeden treffen kann.