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Florian Russi
Der Drachenprinz
Geschichten aus der Mitte Deutschlands
Bertuch-Verlag Weimar 2004

Kaiser Rotbarts Raben

Kaiser Rotbarts Raben

Florian Russi

Der legendenumwobene deutsche Kaiser Friedrich I. (um 1122 - 1190), genannt Rotbart (ital. Barbarossa), wird der Sage nach im Kyffhäuser, einem Berg im nördlichen Thüringen, festgehalten. Von dort soll er wiederkehren, wenn Deutschland in Not ist und seine Hilfe braucht. Florian Russi stellt die Frage, warum der große Kaiser sich nicht schon längst aufgemacht hat, um Deutschland zu retten.

Uta Plisch


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entnommen dem Buch „Der Drachenprinz" von Florian Russi, Bertuch Verlag GmbH 2004

 

Im Kyffhäuser Berg harrt seit vielen hundert Jahren der große Stauferkaiser Friedrich, auch Rotbart oder Barbarossa genannt. Dort sitzt er fest, und im Laufe der Zeit ist sein roter Bart in den Marmortisch hineingewachsen, auf den gestützt der alte Kaiser schon lange darauf wartet, zurückgerufen zu werden auf seinen Thron.
Das Schicksal hat bestimmt, dass er wiederkommen soll, wenn Deutschland in großer Not ist. Um festzustellen, wann dieser Tag gekommen ist, schickt er in Abständen von hundert Jahren seinen getreuen Zwerg Alberich aus dem Berg, damit er nachschaut, ob die Raben noch um den Kyffhäuser fliegen. Wenn Frieden, Einheit und Wohlstand in Deutschland bedroht sind, soll nämlich der stolze Adler Gerwan herbeigeflogen kommen und die Raben vertreiben.
So wartet Kaiser Rotbart seit bald tausend Jahren darauf, dass Alberich ihm die Nachricht überbringt, dass die Raben entflohen sind und die Zeit reif ist für Barbarossas Rückkehr in sein altes Reich.
Als Alberich immer nur melden konnte, dass die Raben ihre gewohnten Kreise um den Berg drehten, wurde der Kaiser tief traurig und begann zu schluchzen. Der Kummer seines Herrn traf den Zwerg tief ins Herz. Deshalb entschloss er sich, den Kyffhäuser zu verlassen und sich auf den Weg zu dem Adler Gerwan zu machen. Nach langem Suchen fand er ihn auf einem hohen, weithin leuchtenden Felsen sitzend. Er kletterte zu ihm hoch, doch Iwa, Gerwans Frau, trat energisch dazwischen. »Behellige nicht meinen armen Mann«, zischte sie. »du siehst doch, wie gebrechlich er geworden ist.«
Als der Adler Alberich gewahrte, rief er ihm zu: »Bist du nicht der kleine Kuhn? Deinen Vater habe ich gut gekannt.«
»Du solltest doch die Raben vom Kyffhäuser vertreiben«, erwiderte der Zwerg vorwurfsvoll.
»Erst muss ich prüfen, ob Deutschland in Not ist«, antwortete Gerwan und schwang sich in die Lüfte. Nach einiger Zeit sah er ein Licht, flog darauf zu und landete auf dem Fenstersims an einem großen Gebäude. Das Fenster war geöffnet. Im hell erleuchteten Innenraum saßen vier vornehm gekleidete Herren sechs zerlumpten Männern gegenüber. Die Zerlumpten waren Bauern. Einer von ihnen trug ein Anliegen vor: »Wir fordern Gerechtigkeit und wollen nicht mehr Leibeigene sein. Das ganze Jahr über rackern wir und unsere Familien uns auf den Feldern ab. Deshalb sollten wir nicht hungern müssen, sondern den größten Teil der Ernte für uns behalten dürfen.«
Die vornehmen Herren schauten sich betreten an. Dann sagte einer von ihnen zu den Bauern: »Macht, dass ihr fortkommt. Ihr stört die gottgewollte Ordnung.« Die sechs ärmlichen Männer senkten die Köpfe und traten den Rückzug an. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte der Sprecher der vier Herren: »Habt ihr das widerliche Gesindel mit eigenen Augen gesehen? Unsere Wachmannschaft soll ihnen folgen. Sobald die sechs die Stadt verlassen haben, sind sie zu ergreifen und totzuschlagen«
Die Lichter in dem Raum wurden gelöscht.
Schön, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft das Gespräch miteinander pflegen, dachte Gerwan bei sich und drehte ab. Er war froh, noch vor Einbruch der Nacht seinen Felsen zu erreichen. 

Viele Jahre später erinnerte sich Gerwan erneut an seinen Auftrag und flog über das Land. Irgendwo nahm er auf einer Mauer Platz und schaute umher. Nicht weit entfernt von ihm knieten schwedische Soldaten. Sie hielten einen Bauern fest, der erbärmlich jammerte: »Was wollt ihr von mir, ich habe euch alles gesagt, mehr Geld habe ich nicht versteckt. Ich bin doch nur ein armer Mann.« In der Nähe lagen tot auf dern Boden ausgestreckt die Frau des Bauern, seine drei Töchter und zwei Söhne. Alle waren missbraucht und gefoltert worden.
»Jetzt bis du dran, Bauer« riefen die Soldaten. Sie rissen ihm die Kieferknochen auseinander und steckten ein Holzstück so in seinen Gaumen, dass er den Mund nicht mehr schließen konnte. Dann flößten sie ihm Jauche ein, den sogenannten Schwedentrunk so lange, bis der Bauer nicht mehr röcheln konnte und die eklige Brühe aus Exkrementen von Mensch und Tier seinen Magen zerfraß und seinen Leib aufblähte. Schlimm, dachte Gerwan wie die arme Bauernfamilie da auf der Erde liegt. Zum Glück haben sich nette Menschen gefunden die ihr beistehen und zu trinken geben. Dann spannte er seine Flügel und flog zurück zu Iwa, seiner Frau.

Zwei Jahrhunderte vergingen. Die Raben zogen immer noch über dem Kyffhäuser ihre Kreise, und Kaiser Rotbart verfiel in tiefe Depression.
Irgendwo im Land stürmten fünf junge stolze und schöne Männer aus einer Gaststätte und riefen: »Die Gedanken sind frei. Es lebe die Republik!« Gerwan hatte auf dem Dach der Kirche Platz genommen die gegenüber der Gaststätte an einem Marktplatz stand und schaute hinunter. Soldaten kamen herbeigeeilt, Befehle gellten über den Platz, und mit ihren Bajonetten stießen die Soldaten die fünf jungen Männer nieder. Deren unglückliche Schreie gaben den abrupten Übergang von stolzer Hoffnung zu unsäglichem Schmerz und tiefer Verzweiflung wieder.
Als ich im Alter dieser Burschen war, hatte ich mehr Disziplin, erinnerte sich der Adler. Dann putzte er seine Federn und trachtete danach, zeitig nach Hause zu kommen.
Wieder hundert Jahre später nahm sich Gerwan vor, diesmal besonders gründlich nach dem Rechten zu sehen. Er landete mitten in einer Art Fabrikgelände auf dem Dach eines Hauses. Auf dem Platz vor dem Haus schrieen ein paar Männer: »Heute sind zur Abwechslung die Zigeuner an der Reihe. Alle, die einen braunen Winkel tragen - vortreten und abzählen!!« »Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei«, ertönte es. »Jeder dritte wird an die Wand gestellt«, brüllte der Anführer der schreienden Männer. »Schießt sie tot. Es lebe der Führer!«
Gerwan beugte den Kopf nach unten. Hatte er nicht Schüsse gehört? Er musste sich getäuscht haben. In einem weiten Bogen zog er über das Land. »Ich fliege heute wohl ungewöhnlich hoch«, sagte er zu sich. Nirgendwo sah er ein Dach, auf dem er sich hätte niederlassen können. Dafür genoss er die Sonne, deren erste Strahlen den nahenden Frühling ankündigten. Unter ihm rannten alte Männer mit Tragbaren hin und her, und Frauen und Kinder suchten in zertrümmerten Gebäuden nach ihren Angehörigen. Allenthalben stiegen Rauchwolken empor. Ihr übler Geruch drang bis zu Gerwan herauf. Irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen, ging es dem Adler durch den Kopf. Er beschloss, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.

Etliche Jahre später hatte er auf dem Dach eines Wachturms Platz genommen. Nicht weit von ihm hielten Wachhabende einen Mann fest und prügelten auf ihn ein. »Wir wollen, dass alle Menschen glücklich sind, und du willst dich dem allgemeinen Glück entziehen«, riefen sie. »Ein Verräter bist du«, fügten sie empört hinzu und führten den Geschundenen ab. Mein Gefühl sagt mir, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, und mein Gefühl trügt mich selten, dachte Gerwan, der Adler.
Einige Jahre später landete er bei einem Flug über das Land wieder auf einem Dach. Er befand sich mitten in einem alten Firmengelände. Unter ihm ging ein Mann mit einem dicken Schlüsselbund von einem Bauwerk zum anderen und sperrte alle Tore zu. Schließlich schritt er durch das Werkstor und schloss es hinter sich mit einem großen rostigen Schlüssel.
»Nichts los hier«, sagte Gerwan enttäuscht zu sich selbst und erhob sich wieder in die Lüfte. »Dabei habe ich mir so viel Mühe gemacht, um hierher zu fliegen.«
Plötzlich wurde er vom Flügel eines Windrades erfasst und zu Boden geschleudert. Benebelt hüpfte er auf der Erde hin und her und musste feststellen, dass da mehrere stählerne Kolosse standen, die mit ihren Armen herumwirbelten Es dauerte ein paar Tage, bis er sich von dem Schlag erholt hatte. Vorsichtig lief er dann einige Kilometer über das vor ihm liegende Feld, bis er das Gefühl hatte, den Ungeheuern entkommen zu sein. Dann nahm er einen Anlauf und bewegte sich wieder durch die Luft.
Diesmal war es ihm klar, dass er die Raben vertreiben musste. Kaiser Rotbart sollte aus dem Berg emporsteigen und Deutschland vor einer Machtübernahme durch die stählernen Riesen bewahren.

In seiner Aufregung fiel dem Adler der Name des Berges nicht ein, von dessen Höhen er die Raben verjagen sollte. Schließlich erinnerte er sich. Der Brocken, der höchste Berg im Harzgebirge, war‘s, den er ansteuern musste. »Im Brocken, im Brocken, soll Kaiser Rotbart hocken«, zitierte Gerwan einen Dichter, dessen Namen er vergessen hatte.
Nach einstündigem Flug erreichte er den Petersberg, der sich unweit von Halle aus der Ebene erhebt. »Da bist du ja, mein geliebter Berg«, jauchzte Gerwan »Jetzt brauche ich nur noch die Raben von dir zu vertreiben, und schon wird Deutschland gerettet.« Doch nirgendwo entdeckte er auch nur einen einzigen Vogel. »Mein Anblick hat sie schon von weitem so erschreckt, dass sie sich schnell davongemacht haben«, stellte der Adler voller Stolz fest »Nun kann Rotbart Deutschlands Einheit und Frieden wieder herstellen.« Zufrieden flog er zurück zu seinem Felsen und zu Iwa, die schon mit dem Abendessen wartete.
Zur gleichen Zeit kroch Alberich wieder aus dem Kyffhäuser hervor und schaute zum Himmel. Er rieb sich seine trüben Augen. In alter Gewohnheit drehten die Raben ihre Kreise. Doch der betagte Zwerg konnte sie nicht erkennen. »Sie sind weg!«, triumphierte er und eilte in den Berg zurück, um seinen Herrn aus dem Schlaf aufzuwecken Er rüttelte ihn und rief: »Die Raben sind nicht mehr da!«
Schlaftrunken schaute der alte Kaiser ihn an, hielt eine Hand ans Ohr und fragte:
»Wen haben wir wieder da?«
»Freu dich, es ist soweit!« rief Alberich nun noch viel lauter.
»Was soll ich mit wem zu zweit?« antwortete Barbarossa mürrisch.
»Was ist? Ich verstehe dich kaum, und es ist so dunkel hier, ich kann dich fast nicht
sehen«, klagte Alberich und begann zu weinen.
Der Kaiser sah ihn mit seinen strahlend blauen Augen an und fragte mit tiefer Bassstimme. »Warum bist du so traurig, mein lieber Alberich?«
Dem Zwerg schnürte es das Herz zu, und er schrie aus Leibeskräften. »Mir ist nicht zum Lachen. Fast täglich spielen mir Augen und Ohren einen Streich.«
Da schaute Rotbart väterlich auf seinen kleinen Freund und legte ihm die Hand auf den Scheitel: »Du sagst also, wir machen uns unnötig Sorgen ums Reich.« Der Kaiser ließ die Schultern fallen, legte seinen Kopf wieder auf den Marmortisch und fiel für weitere hundert Jahre in tiefen Schlaf.

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