Am Strand von Phönizien, nahe der Stadt Sidon, spielte die junge Prinzessin Europa mit ihren Freundinnen. Europa war eine Tochter des Königs Agenor und gerade siebzehn Jahre alt geworden. Das Spiel, das sie spielten, war ein Tanz mit bunten Schleiern. Die Mädchen, die ihn tanzten, waren unschuldig, ihr Tanz jedoch hocherotisch. Sie waren nackt, nur mit den Schleiern verdeckten sie ihre Scham. Da ein leichter Wind wehte, hatte auch der Windgott Poseidon einen Anteil an dem Spiel. Er war, wie fast alle griechischen Götter, der Schönheit von Menschenkindern in hohem Maße zugetan. So sorgte er dafür, dass der Wind es fügte, dass die Schleier der Mädchen ihre hübschen Körper nie ganz verdeckten, sondern nach der Methode »Oh, da war doch was« deren Reize herausstellten.
Europa war eine wunderschöne junge Frau von makelloser Gestalt. Und nicht nur Poseidon schaute dem Treiben zu. Auch Zeus, der oberste der griechischen Götter, war auf die Prinzessin aufmerksam geworden. Er, der Mächtigste von allen, war hingerissen von ihr und hatte nur noch den einen Wunsch, dieses bezaubernde Wesen in seine Arme nehmen zu können. Wenn es um geschlechtliche Freuden ging, waren die Götter und die Menschen in ihren Gefühlen eng verwandt.
»Hilf mir!«, raunte Zeus seinem als listig und verschlagen bekannten Sohn, dem Gott Hermes zu, der auch zu denen gehörte, die sich von dem Spektakel hinreißen ließen. Er musste leise reden, denn als vierte Gottheit war auch Hera, die Gattin des Zeus, in der Nähe. Sie betrachtete das Spiel der Freundinnen voller Abscheu und Misstrauen. Im Gegensatz zu den ahnungslosen jungen Frauen wusste sie um deren Wirkung auf die Männer. Vor allem aber kannte sie ihren eigenen Mann. Der hatte sie nicht nur mit anderen Göttinnen, so mit Maia, der Mutter des Hermes, sondern auch mit vielen Menschenkindern betrogen. Leda, die er als Schwan verführte, war dabei, und Alkmene, mit der er Herakles zeugte, und auch der hübsche Knabe Ganymed.
Zeus war nicht nur der höchste Gott, sondern auch ein eifriger Liebhaber, der fleischlichen Lust treu und weniger seiner Frau. Hermes verstand den Hilferuf des Zeus sofort. Er war der Gott des Handels, aber auch der Schutzpatron der Diebe, ein Schlitzohr und Kuppler. Dafür, dass er ihm mit seiner Listigkeit und Verschlagenheit immer wieder zu Diensten stand, wurde er von Zeus besonders geschätzt.
Wenn Zeus als Göttervater bezeichnet wurde, so war er nicht nur deren Ahne und Vorbild, sondern häufig im wörtlichen Sinne ihr Erzeuger. Der griechische Götterhimmel, auch als Olymp bezeichnet, war voller Menscheleien und Mesalliancen.
Wer sich Zeus zum Vorbild nahm, hatte einiges zu tun. Hermes brachte die Botschaften und Wünsche seines Vaters zu den anderen Göttern und ließ sich immer mal wieder etwas einfallen, um dessen Seitensprünge zu ermöglichen und zu vertuschen. Auch diesmal hatte er einen Einfall, mit dem er nicht nur Hera hintergehen, sondern auch die naive Prinzessin Europa überlisten konnte. Er bat Zeus, sich in einen prächtigen Stier zu verwandeln und trieb eine in der Nähe friedlich weidende Rinderherde dazu an, sich Zeus anzuschließen und in Richtung der spielenden Jungfrauen aufzubrechen. Wie erhofft, bewunderte Europa den Anführer der Herde. Angefeuert von ihren Gespielinnen ging sie auf ihn zu, lobte seine Schönheit und Stärke und streichelte seinen Nacken.
»Na, hast du Mut?«, fragte eine ihrer Freundinnen. Europa nahm die Herausforderung an und schwang sich auf den Rücken des Stiers. Kaum dass sie auf ihm Platz genommen und an seinen Hörnern festgehalten hatte, setzte sich der Stier in Bewegung. Er eilte zum Meer und stürzte sich in die Fluten. Die erschreckte Europa hatte nur noch die Möglichkeit, die Hörner des Stiers noch fester zu packen und das Gleichgewicht auf dessen Rücken zu halten. Mit schnellen Bewegungen, er war schließlich ein Gott, strebte der Stier der Insel Kreta zu. Hier kannte er sich aus. In einer Höhle im Innern der Insel war er geboren worden.
Am Gestade von Kreta angelangt, verwandelte sich Zeus in einen Adler und flog mit Europa in die Nähe der Stadt Gortyn. Nachdem er sie abgesetzt hatte, begann Europa, sich bei ihm über sein Verhalten zu beschweren. Zeus aber konnte sich trotz der vielen Schwimmbewegungen im kühlen Wasser des Meeres nicht mehr zurückhalten. »Ich bin Zeus, dein höchster Gott, aber auch ich unterliege der Gewalt der Liebe.« So sagte er, verwandelte sich in seine göttliche Gestalt zurück und zog die Prinzessin zu sich auf den Sandboden.
Ein Gott, sanfte Gewalt und eine unerklärliche Situation:
Was hätte Europa tun sollen? Er war nun einmal auch darin ein himmlischer Heroe. Zwischen Europas Schenkeln entfachte er eine Glut, die ihren ganzen Körper erhitzte, ohne ihn zu verbrennen.
»Was hast du da getan?«, fragte ihn Europa, nachdem er sich aus ihr zurückgezogen hatte und sie am ganzen Körper zu küssen begann.
»Ich habe mich in dich verliebt«, antwortete er, »und die Liebe ist eine Macht, der auch die Götter nicht widerstehen können. Wenn mein kleiner Freund Eros einen Menschen mit einem seiner Pfeile trifft, ist es auch um ihn geschehen. Liebe und leider auch Hass sind Kräfte, die alles übersteigen, was sich in und um uns bewegt. Es lässt sich nicht mehr ändern. Nimm es als Schicksal. Du bist so ungeheuer schön und reizvoll. Ich werde alles dafür tun, dass auch du mich lieben wirst, ehrlich und innigst. Hier auf Kreta werde ich eine Heimat für dich schaffen, die dich erfüllt und glücklich macht.«
Europa antwortete nur, dass sie zwar nichts gegen ihr Schicksal unternehmen könne, aber sehr darauf bedacht sei, wie es sich weiter gestalten werde. Dann aber sagte sie nichts mehr, gab sich seinen Liebkosungen hin und drängte schon bald darauf, den Liebesakt zu wiederholen.
Zeus zeigte sich hingerissen von dieser Liebe. Immerzu schloss er Europa in seine Arme. Er führte sie über die Insel, zeigte ihr die Höhle, in der er geboren worden war und errichtete für sie ein hübsches kleines Schloss, in dem sie Geborgenheit finden konnte. Es dauerte nicht lange, da begann sich ihr Bauch zu dehnen, und neun Monate später kam sie nieder und brachte einen Sohn zur Welt. Sie und der Vater gaben ihm den Namen Minos. Der wuchs unter den Augen seines Erzeugers zu einem stattlichen Mann heran und wurde König von Kreta und Begründer der nach ihm benannten minoischen Kultur, die schon bald Einfluss auf die Völker nahm, die rund um das Meer, das wir heute Mittelmeer nennen, ansässig waren. Zeus blieb Europa liebevoll verbunden, und es folgten zwei weitere Söhne, denen sie die Namen Rhadamanthys und Sarpedon gaben. Ihre Mutter tat alles in ihrer Macht Stehende, um deren Entwicklung zu fördern, und so wurden auch diese beiden zu glanzvollen Persönlichkeiten.
Nachdem Sarpedon, der Jüngste, das Alter von achtzehn Jahren erreicht hatte und volljährig geworden war, rief Zeus seine Familie zusammen und sagte:
»Europas und auch mein Schicksal hat es so gewollt, dass wir ein Liebespaar wurden und uns immer von Herzen verbunden geblieben sind. Sie war und ist eine großartige Frau und eine wunderbare Mutter. Ich habe vor, einen ganzen Kontinent nach ihr zu benennen. Wir haben uns beide liebevoll um euch Kinder gekümmert und bemüht, euch zu Persönlichkeiten zu erziehen, Sogar meine Tochter Athene, die als Göttin der Weisheit bekannt ist, habe ich nach Kreta geschickt, um euch vieles zu lehren. Minos, du größter Stolz deiner Eltern, hast dich als Kretas König bewährt. Du wirst bis zu deinem Tod über die Insel regieren und für dein Volk und alle, die als Gäste zu ihm kommen, ein kluger und gerechter Herrscher sein. Es gilt das Recht der Erstgeburt, und deshalb könnt ihr, Rhadamanthys und Sarpedon, nicht auch Könige von Kreta werden. Mit euch habe ich einen anderen Plan. Er ist abenteuerlich, aber wenn es gelingt, ihn zu erfüllen, wird er vielen Menschen Glück und Frieden bringen.«
Bildquellen:
Vorschaubild. Die Entführung der Europa, rotfiguriges Vasenbild, 5. Jh. v. Chr., Museo Nazionale Etrusco, Tarquinia Von Unbekannt - Ancient greek vase, also on: http://traumwerk.stanford.edu/philolog/2005/12/rembrandt_and_ovid_the_abducti.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10...
Europaund der Stier, Fresko aus Pompeji, 1. Jahrhundert etwa zur Zeit Ovids, gemeinfrei
Raub der Europa von Tizian, um 1560, Isabella Stewart Gardner Museum in Bostonon Tizian - http://www.gardnermuseum.org/collection/artwork/3rd_floor/titian_room/europa?filter=artist:3150, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15...
Textquelle:
Entnommen aus: Russi, Florian: Symbolon - Europas Kinder auf Reisen, Halle: Mitteldeutscher Verkag, 2019 ISBN 978-3-96311-215-7