Die Erzählung vom Rotkäppchen ist in fast ganz Europa verbreitet. Sie ist das in der Literatur am häufigsten bearbeitete und interpretierte Märchen überhaupt. Ältestes schriftliches Zeugnis ist die französische Erzählung „Petit Chaperon rouge" von Charles Perrault aus dem Jahre 1697. Sie wurde 1790 von Friedrich Justin Bertuch erstmals auch in deutscher Sprache veröffentlicht. Die heute in Deutschland bekannteste Version entstammt der 1812 von den Gebrüdern Grimm herausgegebenen Sammlung von Kinder- und Hausmärchen. Deren Fassung gibt der folgende Text wieder:
Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in allen Ecken herum."
„Ich will schon alles gut machen", sagte Rotkäppchen zur Mutter und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wußte nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen", sprach er. „Schönen Dank, Wolf." - „Wohinaus so früh, Rotkäppchen?" - „Zur Großmutter." - „Was trägst du unter der Schürze?" - „Kuchen und Wein, gestern haben wir gebacken; da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken." - „Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?" - „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nußhecken, das wirst du ja wissen", sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: ‚Das junge, zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte, du mußt es listig anfangen, damit du beide erschnappst.‘ Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her; dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald."
Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: ‚Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, daß ich doch zu rechter Zeit ankomme‘, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und geriet immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Tür. „Wer ist draußen?" - „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf."
- „Drück nur auf die Klinke", rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen." Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.
Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, daß es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, daß die Tür auf stand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, daß es dachte: ‚Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir‘s heute zumut, und ich bin sonst so gerne bei der Großmutter!‘ - Es rief „Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren?" „Daß ich dich besser hören kann." - „Ei, Großmutter, was hast du für große Augen?" - „Daß ich dich besser sehen kann." - „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?" - „Daß ich dich besser packen kann!" - „Aber, Gro&szszlig;mutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?" - „Daß ich dich besser fressen kann." Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.
Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: ‚Wie die alte Frau schnarcht, du mußt doch sehen, ob ihr was fehlt.‘ Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, daß der Wolf darin lag. „Finde ich dich hier, du alter Sünder", sagte er, „ich habe dich lange gesucht." Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben, und sie wäre noch zu retten, schoß nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchcn leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war‘s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!" Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er gleich niedersank und sich tot fiel.
Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: „Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir‘s die Mutter verboten hat.‘„
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Jacob Grimm (1785-1863)
Wilhelm Grimm (1786-1859)
Teaserbild: Zeichnung von Weda S. vom Heilpädagogischen Kinderheim Reinsdorf, Das Copyright liegt bei dem Trägerwerk Soziale Dienste in Sachsen-Anhalt e. V.
Bild 2: gemeinfrei; Illustration von Carl Offterdinger, um 1900; http://www.maerchenatlas.de/grimms-marchen/rotkappchen/
Bild 3: wikipedia - gemeinfrei; Illustration von Offterdinger; http://de.wikipedia.org/wiki/Rotk%C3%A4ppchen