Die ersten Pläne zu einem Faust-Drama erarbeitete Goethe bereits 1770/71. Er war zu der Zeit ein junger Mann von 22 Jahren. Die erste Niederschrift erfolgte 1774 in Frankfurt/Main. Etwa zeitgleich mit den „Leiden des jungen Werthers" entstanden, ist sie sprachlich als Sturm und Drang-Dichtung erkennbar. Goethe selbst hat diese Urfassung seines Faustdramas nie veröffentlicht. Erst 1887 wurde sie von Erich Schmidt unter der Bezeichnung „Urfaust" herausgegeben, nachdem er von dem als verschollen geltenden Manuskript eine Abschrift der Weimarer Hofdame Luise von Göchhausen aufgefunden hatte.
22 Szenen in lockerer Folge, scheinbar ohne bewusste Führung und ohne Bindeglieder, die insgesamt doch ein Ganzes bildeten, indem mit wenigen Strichen die wesentlichen Schicksalsaugenblicke eingefangen waren. Sprachlich ist diese Faust-Fassung dem Sturm und Drang zuzuordnen. Der Text besteht teils aus Knittelversen, teils aus Prosa.
Hauptbestand war die Gretchen-Tragödie (des späteren 1. Teiles). Gegenüber Faust I fehlen: Zueignung, Vorspiel auf den Theater, Prolog im Himmel, Osternacht, Osterspaziergang, der Pakt, die Hexenszene, „Wald und Höhle", Walpurgisnacht. Der „Urfaust" endet mit der Kerkerszene, aber ohne die Stimme „Gerettet".
Im Eingang erscheint Faust als gewesener Aufklärer: Alles rational erfahrbare Wissen der Welt hat er sich erobert; es war totes, friedloses Stückwerk. Aus titanisch-maßlosem Drang will er nun seinen allumfassenden Lebensdrang durch die Eroberung des irrationalen Lebens stillen. (Wie die Genies!) Zwei Geschehniskreise zeigen seinen Hochflug und Absturz: Erdgeistbeschwörung und Gretchen-Tragödie.
Nach Überwindung des aufklärerischen Bannes will Faust die dem Verstand nicht zugängliche Lebensmacht der Welt unmittelbar erobern durch die Gefühlskraft des Herzens; er will die Natur meistern, will handelnd eingreifen in die Weltbewegung, will alle Triebkraft des Lebens hemmungslos entfesseln. Beim Anblick des Makrokosmos-Zeichens wähnt seine Seele sich erhoben zum Gott-Sein: „Bin ich ein Gott! Mir wird so licht!" Aber die Begegnung mit den Erdgeist bricht ihn: „Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir" Die Größe des göttlichen Sachwalters irrationalen Lebens bleibt dem begrenzten menschlichen Verstehen unzugänglich. Der Zwiespalt im Übermenschen wird sichtbar: maßlos-unendliches Wollen - endlich-begrenztes Nichtgewachsensein.
Dämonische Rastlosigkeit treibt Faust weiter. Da der direkte Weg in die Natur versperrt ist, so wagt er den Umweg über das wirkliche Leben, geführt vom Geist, den er begreift, von Mephisto, dem undämonischen Materialisten. Die Verwirklichung seines maßlosen Lebensdranges zerbricht notwendig Menschenglück und Menschenleben: Das ist der Sinn der Gretchen-Tragödie. Gretchens naive Lauterkeit und zufriedene „kleine Welt" erscheinen Faust als Urbild harmonischer Naturnähe; im Liebesbund mit solche naturnaher Reinheit will er Ich und Natur vereinen. Aber die Liebe der Frau bedeutet ihm nur Erweiterung des eigenen Selbst, ohne gleichzeitiges Aufgehen im Du. Diese Egozentrik vernichtet das naive Gretchen, das solchem maßlosen Wollen nicht gewachsen ist. Schuld-gebrochen, erfasst von „inneren Grauen der Menschheit" steht Faust vor der erstorbenen Liebe und der mutwillig zertrümmerten „kleinen Welt".
Schon ähnlich dem späteren „Faust I". Gericht über die Vergötterung des Titanentums im Sturm und Drang. Genialische Maßlosigkeit kann den Zwiespalt des Menschen zwischen unendlichem Wollen und begrenztem Sein nicht aufheben. Es ist der Notschrei des Maßlosen und demutsvollen Willensmenschen Goethe, der reif geworden ist für die Klassik und ihre Selbstbegrenzung.