60 Jahre hat Goethe am „Faust" gearbeitet, länger als irgendein anderer Dichter der
Weltliteratur am selben Werk. Diese lange Zeitspanne erklärt es, dass der Stil des Werkes nicht einheitlich ist, sondern die verschiedensten Stilelemente nebeneinander stehen, die die verschiedenen Lebensepochen des Dichters widerspiegeln, aus denen die sprachlichen Szenengestaltungen stammen: Sturm, Drang, Klassik, Romantik.
Die ersten Pläne zu einem Faust-Drama erarbeitete Goethe 1770/71. Die erste Niederschrift erfolgte 1774. Der Dichter selbst hat diese Fassung nie veröffentlicht. Sie war sogar verschollen, bis eine Abschrift der Weimarer Hofdame Luise von Göchhausen von Erich Schmidt zufällig aufgefunden und unter der Bezeichnung „Urfaust" 1887 herausgegeben wurde.
Es ist die Sturm und Drang-Fassung des „Faust". Goethe brachte sie 1775 nach Weimar mit.
Inhalt: 22 Szenen. Gegenüber „Faust I" fehlen noch Zueignung, Vorspiel, Prolog, Osternacht, Osterspaziergang, der Pakt, die Hexenszene, „Wald und Höhle", und Walpurgisnacht. Es endet mit der Kerkerszene, aber ohne die Stimme „Gerettet".
Das Ergebnis der Arbeit am „Faust" in Italien. Geringen Veränderungen gegenüber dem „Urfaust".
Inhalt: über den „Urfaust" hinaus nun die Hexenszene und „Wald und Höhle". Dafür „Trüber Tag" und Kerkerszene ausgelassen; schließt mit Domszene.
Die Veröffentlichung dieses Fragments, in dem nicht einmal die Gretchen-Tragödie abgeschlossen ist, ist ein Verzicht des Dichters , das Werk je abzuschließen, da das Werk trotz der Fortschritte in Italien nicht gedeihen wollte. Zwischen dem klassischen Geist des italienischen Goethe und dem nordischen Geist des Faust stand ein Gegensatz, der eine Vollendung unmöglich erscheinen ließ.
Die Romantiker hatten sich gegen die Vollendung des Faust-Fragments ausgesprochen. Aber auf Schillers Drängen nahm Goethe die Arbeit 1797 wieder auf. Schiller tadelte die allzu lockere Szenenfolge und verlangte, die Idee in Fausts Schicksal klar herauszuarbeiten. Noch 1797 entwarf Goethe einen Gesamtplan (auch für Faust II). 1806 wurde „Faust I" fertiggestellt.
Inhalt: Neu gegenüber Faust-Fragment sind Zueignung, Vorspiel auf dem Theater (beide Teile beleuchten Goethes Stimmung beim Arbeitsbeginn), Prolog im Himmel (ganz aus südlichem Geist lebend), Vollendung des großen Monologs, Osterspaziergang, Paktszene. Im Gretchen-Teil nur geringe Änderungen.
Gesamtplan bereits 1797 aufgestellt. Begonnen um 1800 mit Helena-Drama und klassische Walpurgisnacht. Wiederaufnahme der Arbeit erst 1824-31. Im August 1831 abgeschlossen. Goethe wollte später noch Änderungen anbringen, der Tod hinderte ihn daran.
Humanistenbriefe und Ratsprotokolle berichten von einem historischen Dr. Jörg Faustus (um 1488-1541), der sich als Totenbeschwörer, Schwarzkünstler, Zauberer, Wahrsager, Quacksalber, sittenloser Astrologe in verschiedenen Städten Deutschlands herumtrieb. Bald bemächtigte sich die Sage des unheimlichen Gesellen, und das von teufelsangst aufgewühlte Volk raunte von einem Teufelsbund. (Grund dafür war der Glaube, dass der menschliche Trieb nach Erkenntnis über die bloße Erfahrung hinaus zum Abfall von Gott, zum Bunde mit dem Teufel und so zur ewigen Verdammnis führe.)
Bei Wittenberger Studenten gingen um 1570 lateinische Faustgeschichten von Hand zu Hand. Ähnlich wie in der Volkssage um den Namen Fausts erschien dieser auch in diesen Geschichten als Gaukler, Wollüstling, Säufer, Schmarotzer usw., den der Teufel in Gestalt eines Hundes begleitete, zu Venedig einen missglückten Fluchtversuch gemacht haben soll und der schließlich den Teufel selbst ermordete. - Alles, was über Faust im Umlauf war, sammelte und vermehrte mit Einzelzügen (Bauernsohn, Theologie- u. Medizinstudium, schlechte Gesellschaft, vergeudetes Erbe, Teufelsbündnis für alle Genüsse, vom Teufel geholt noch vor der abgelaufenen Frist) ein strenger Lutheraner zu der „Historia von Dr. Johann Fausten", 1587 (Verlag Joh. Spieß, Frankfurt/M.) zur Warnung vor dem „gottlosen" „Humanistenwesen" mit seinem sündhaften Wissenstrieb und epikureischen Genießen. Darin erscheint Faust nicht nur als Schwarzkünstler usw., sondern auch als gelehrter Humanist. Dieses erste Faustbuch wurde nun in der Ausgabe als „Volksbuch vom Dr. Faust" ein Bestseller. Auf Grund dieses Volksbuches schuf Shakespears großer Zeitgenosse Christopher Marlowe (1564-93) das erste Faustdrama „The tragical history of Dr. Faustus", 1588. Darin ist Faust ein Mann voll Machtgier, der der große Beherrscher der Welt werden möchte; es ist ein dämonisches Ringen zwischen Mensch und Teufel, eine wilde Klage wider die Wissenschaft, Sehnsucht nach Magie, unfruchtbare Reue und grauenvolle Todeserwartung. Englische Wandertruppen spielten das Stück seit 1608 in Deutschland. Deutsche Spieler bildeten danach ein zügiges Volksstück mir greller Bühnenwirkung und lustigem Gegenspiel: Während der gelehrte Faust der Hölle verfällt, überlistet Hanswurst den Teufel. Die Verachtung der Aufklärer drängte das Volksstück auf die Jahrmärkte ab, wo es als Puppenspiel häufig aufgeführt wurde (bis ins 19. Jh.). (Auch hierfür bildet Marlowe die Grundlage.)
Goethe kannte sowohl das Volksbuch wie das Puppenspiel seit seiner frühen Jugend in Frankfurt. (Das Volksbuch besond.ers in der Bearbeitung des „Christlich Meynenden" von 1725, das in Jahrmarktsdrucken verbreitet war.)
Als Student war er in Leipzig häufig in Auerbachs Keller verkehrt. Während der Genesung in Frankfurt beschäftigte er sich mit Alchemie (und mystischen Schriften). In Straßburg entdeckte der Stürmer Goethe im Eingangsmonolog des Spiels das eigene Herz und Schicksal: die Enttäuschung über die Wissenschaft; Erlebnis des titanischen Willens, das Geheimnis der Welt und des Lebens zu ertrotzen; unbefriedigter Lebenshunger. Hier entstand der Plan zu einer Faust-Tragödie. Die sarkastischen Züge seines Freundes Merck in Frankfurt boten ihm das Vorbild für Mephisto.
Bereits in Frankfurt fügte sich zur Faustgestalt als Forscher auch die Gretchentragödie:
Das historische Urbild (erst 1939 von Ernst Beutler entdeckt) war die Kindermörderin, Susanne Margarethe Brandt, die nach einem Fluchtversucht verhaftet und dann 1772 zu Frankfurt/M. hingerichtet wurde. Die Akten dies Verhörs und der Hinrichtung befanden sich in Vater Goethes Besitz. Goethe selbst nahm innersten Anteil an den Geschehnissen der Hinrichtung. Das Schuldbewusstsein wegen der verlassenen Friderike Brion peitschte ihn. Aufgewühlten Herzens schrieb er in fliegender Hast einzelne Szenen nieder und las sie den Freunden vor. Hier ging ihm auch die Gesamtplanung auf mit dem Schluss im Himmel. Die bisherige Hauptgestalt war die Teufelin Helena gewesen; sie wurde nun durch die Gretchenfigur verdrängt, und Faust selbst wurde zu einen Liebhaber tut Goethes Zügen. So wurde der „Urfaust" zur dichterischen Lebensbeichte der Straßburger Zeit.
Die Faustdichtung ist eine Allegorie des ganzen menschlichen Lebens (und Goethes im Besonderen), eine „Mysteriendichtung", ein philosophisches Ringen um das Problem des Lebens, eine Welt- und Lebensdeutung: Das Ringen nach einer letzten Seins- und Sinnerfüllung des ewig strebend Bemühten; das Ringen des innig erdverbundenen und doch noch auf Erden im tiefsten heimatlosen Menschen nach einem Endgültigen und Bleibenden; die Suche nach dem „unbekannten Gott", die den Kreis der selbstgenügsamen bloßen Menschlichkeit aufgesprengt hat und hinüberdringen, ist in eine Unendlichkeit, die ganz in Gott und aus Ihm und durch Ihn ist.
Ausgangspunkt der Faustdichtung ist die Fragwürdigkeit des Lebens: Aus einem inneren Drang verlangt Faust (= der Mensch) vom Leben Unendliches, stößt jedoch überall auf endliche Grenzen. Wohl wurden ihm Erlebnisse zuteil, die seinen überschwänglichen Ansprüchen für den Augenblick Genüge taten; dauernde Befriedigung fand er nicht; jede Erfüllung einer Sehnsucht brachte stärker zum Bewusstsein, dass mehr und tiefere Wünsche ungestillt blieben. Der faustische Mensch ist vom unendlichen Sehnen seiner Natur, das vom endlichen Leben naturnotwendig enttäuscht wird, wie von einem Fluche befallen. Er flucht verzweifelnd dem Leben; Mephisto verhöhnt ihn und sein ewig unbefriedigtes Streben.
Erlösung von der Seelenqual durch rettende Entwicklung: Dies verheißt der Herr im „Prolog". Was Faust nicht besitzt von Natur, wird er durch das Leben erlernen; es wird ihn zwingen, einen Ausgleich zwischen Ich und Welt, zwischen seinen inneren Ansprüchen und den äußeren Möglichkeiten zu finden; er wird Befriedigung erringen, ohne auf höhere Ansprüche zu verzichten; gerade durch das Festhalten an ihnen, durch Treue gegen Sich selbst, durch nimmermüdes Streben und Suchen nach Erfüllung. In der Pakt-Szene bestimmt Faust selbst das Ziel der Entwicklung. Er wäre mit dem Leben versöhnt, wenn ihn ein Lebensinhalt so befriedigte, dass ihn nichts mehr zu begehren bliebe. Weil ihm solche Erfüllung unmöglich scheint, paktiert er mit dem Teufel.
Der Weg der Entwicklung, das dunkel strebende Bemühen „von unten" führt durch tragische, aber notwendige Irrwege, schließlich aber durch das Mitwirken der ständig begleitenden und teilnehmenden Liebe „von oben" (Gnade) (das ewig weibliche Prinzip in der Ordnung des Unendlichen) zur Erfüllung und Erlösung. Um Fausts Pessimismus, die Verzweiflung am Leben, zu widerlegen und seinen Lebenswünschen genugzutun, lässt ihn Mephisto alle Möglichkeiten des Lebens prüfen. Aber obwohl Faust jeder neuen Lebensstufe mit höchsten Erwartungen entgegen drängt, erlebt er wohl augenblicklich höchste Seligkeit, ist jedoch nie auf die Dauer befriedigt. Das Liebesglück mit Gretchen endet mit der tragischen Erfahrung seiner eigenen Treulosigkeit in der Liebe. Der Ruhm, der ihm, in der hohen Welt des Kaiserhofes zuteilwird, ist schöner Schein. Harmonie und Schönheit, die innerlich zerrissenen Menschen als ersehntes Heil erscheinen, erlebt Faust im Idyll mit Helena doch jenseits aller Wirklichkeit, nur in der Idee; der unbewusste Schein zur Wirklichkeit zerstört das Traumreich des ästhetischen Lebensgenusses. Auch die Erfolge des praktischen und sozialen Wirkens als Herrscher und Kolonisator erfüllen das Sehnen nicht; ein unbequemer Nachbar verdirbt die Freude am Weltbesitz und reizt die Leidenschaft zur bösen Tat. Der Tod überhebt Faust weiterer Wünsche.
Die Bilanz ist: Das Leben gewährt keine äußere dauernde Befriedigung. Auf jeder Stufe wiederholt sich die Erfahrung: Alles Irdische ist vergänglich, im Letzten unzulänglich. Alle Versuche äußerer, materieller Seinserfüllung durch Irdisches ist ein Irrweg. - Doch wenn auch kein einzelner Inhalt des Lebens Faust zu erfüllen vermag, das Leben im Ganzen hat ihn befriedigt. Der Weltschmerz des Anfangs ist der Lebensbejahung gewichen. Im Gespräch mit der Sorge, in der sich alle niederziehenden Gewalten „verkörpern, widerruft er seinen großen Fluch über das Leben durch ein Bekenntnis zum Leben, trotz klarster Einsicht in dessen Fragwürdigkeit. Er ist stark genug geworden, ohne Illusionen zu leben; er will der natürlichen Sorgen nicht künstlich durch die Magie überhoben werden, sondern mit ihnen ringen. Er weiß: Aus der Kraft, das Leben, das man nicht genießen kann, wenigstens zu bestehen, erwächst im „Weiterschreiten" durch Lust und Leid eine dauernde Befriedigung, nicht eine materielle, äußere, sondern eine innere, sittliche. Die Bilanz: Das Leben kann dauernde innere, sittliche Befriedigung und Erfüllung gewahren.
Faust hat seine Wette, die auf völligem Unglauben an das Leben beruhte, verloren, weil er den Glauben an das Leben wiedergefunden hat. Doch Mephisto hat seine nicht gewonnen. Von den Lebensinhalten, die er bot, ist Faust nicht befriedigt; von der genießerischen Lebensauffassung, die Mephisto verkörpert, sagt er sich los; seiner sittlichen Befriedigung gegenüber bleibt der Teufel verständnislos. Recht bekommt der Herr. Wie er voraussah, hat Faust die Kraft gefunden, das Leben zu bestehen; in seinen dunklen Drang hat er sich instinktiv dem Ziel langsam entgegengearbeitet, wo ihm Erlösung von seinen Unglauben an das Leben bereitet war. Dass Fausts sittliche Befriedigung im Gefühl seines Menschenwertes nicht subjektive Täuschung, sondern berechtigt ist erweist seine Rechtfertigung vor Gott am Schluss der Dichtung. Faust ist, mit gewöhnlichem Maß gemessen, ein hemmungsloser Verbrecher, für den auch die Idee der Plicht nicht mehr zu existieren scheint. Trotzdem wird er in der Dichtung erlöst. Was ihn, nach Goethe, vor Gott rechtfertigt, ist, dass Faust das Streben nach höherer Erfüllung nicht aufgab. Trotz aller Irrwege und trotz aller entmutigenden Erfahrungen, sondern das Ungenügen an irdischen, niederen Genüssen zum Ansporn nahm, nach höherer Erfüllung zu streben. Irrtum und Sünde waren ihn nur Durchgangsstufe und Ansporn zum Streben und Ringen nach dem Ewigen und Wahren, nach Gott. Verstrickung in schwerste Schuld erweist sich so als notwendige Voraussetzung der Erlösung, des teilnehmenden Eingreifens der Gnade, der „Liebe von oben". Darum erwirkt ihn gerade Gretchen, an dem er gefehlt, die Verzeihung. So ist der Grundgedanke der Faustdichtung zum Teil offensichtlich katholisch. (Goethe hat sich auch selbst zu Eckermann geäußert, dass der „Faust" nichts enthalte, was mit den Glaubenslehren der Kirche nicht im Einklang stünde.)
Und dennoch kann der „Faust" nicht als eine christliche Dichtung im eigentliche Sinne angesehen werden Es fehlt die geschichtliche Grundtatsache des Christentums: Erlösung kann nur geschehen durch den Kreuzestod Christi; der Mensch kann nur die Voraussetzungen schaffen zu seiner Erlösung, und dies nur (wie auch bei Goethe) durch Mitwirken der Gnade aber die Erlösung selbst geschieht nicht durch den Menschen und sein Verdienst, sondern einzig durch die Erlösungsgnade Christi; ohne Kreuzestod Christi keine Erlösung - auch nicht durch noch so strebende menschliche Bemühen. Der Mensch lebt nicht in einen profanen Ordnungsgefüge und wird darin reif für die Erlösung durch einen außerhalb dieser Welt stehenden, wenn auch am Geschehen durch Gnade irgendwie teilnehmenden Gottes, sondern in einer unmittelbar auf Christus bezogenen Weltordnung, in der jedes menschliche Handeln unmittelbar und organisch in einen christlichen (d. h. auf Christus bezogenen) Lebenszusammenhang steht, fördernd oder hemmend.
Ein großer, äußerer Bogen spannt sich vom „Prolog in Himmel" bis zu Fausts Verklärung" im Himmel. Die Fundamente dieses Bogens, sein Ausgangspunkt und Endpunkt, machen Fausts darin eingespanntes Leben zum beispielhaften, überindividuellen Menschenschicksal zur Allegorie des Menschenlebens als Ringen metaphysischer Mächte, niederziehen der (Mephisto) und göttlicher (der Herr, die Gnade). Gespannt wird dieser Bogen durch die metaphysische Wette zwischen dem an die irrende, aber innere Gutheit des Menschen glaubenden Gott-Vater und Mephistopheles, der Verkörperung des Bösen, des Nihilismus, des Skeptizismus. - Unter den äußeren Bogen spannt sich ein innerer Bogen von Teufelspakt (l. Teil) bis zu Fausts Tod (2. Teil). Gespannt wird dieser Bogen durch die Wette zwischen Faust und Mephisto, ob Fausts vorwärtsdrängendes Streben je zum Stillstand zu bringen sei durch Genuss. Lebensgenuss sind alle sich mit dem Hinausschreiten aus der Gelehrtenstube vollziehenden Ereignisse; Glied dieser Kette ist das Gretchenerlebnis, dumpfe Leidenschaft unter Ausschaltung zügelnder Vernunft. Die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg stellt symbolisch Fausts Versinken in grobe Sinnlichkeit dar. Von dem allein auf das Ich bezogenen Genusses des l. Teiles (der nur Unbefriedigtsein gewährt, das Streben nicht zum Stillstand, bringt und daher die Wette nicht einlösbar macht) führt der Weg des von Genuss zu Genuss, taumelnden und irrenden Faust im 2. Teil durch gemeinschaftsbezogenen Genuss über ästhetische Versittlichung zum „Schöpfungsgenuss von innen" (der großartigen Kulturarbeit, zur Vision eines freien, glücklichen Volkes). „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick." Faust stirbt. Nun scheinen sowohl die metaphysische Wette (Herr - Mephisto) wie auch die irdische (Faust - Mephisto) einlösbar. In Wirklichkeit hat Mephisto beide Wetten verloren: Denn nicht im Stillstehen, im genießenden „Verweilen" hat Faust sein höchstes Glück genossen, sondern in der Bejahung des ewigen Unbefriedigtseins.
Damit endet der innere, irdische Bogen mit dem Siege Fausts, dem Siege des Strebens über den Genuss im Sinne Mephistos. Damit kann sich (nachdem die Vorbedingung erfüllt ist) auch der äußere, metaphysische Bogen schließen im Sieg des Herrn, der Gnade, der „Liebe von oben", über Mephisto, den Knecht, das Werkzeug Gottes, „jene Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft".
In „Faust" gestaltete Goethe die verschiedenen Stufen seines eigenen Reifens, jeweils charakterisiert durch Lebensbilder, die aus „Sondererlebnissen" stammen. Es ist Goethe umfassendste Bekenntnisdichtung (Erlebnisdichtung). - Im Großen und Groben gesehen steht in „Faust I" der titanische Übermensch der Sturm- und Drang-Zeit vor uns mit seiner heroischen Ungeduld, seinem überschäumenden Kraftgefühl, seinem Trotz gegen Welt und Überwelt, der jenseits des sozialen Gefüges steht. In „Faust II" findet Faust zur harmonischen Einordnung ins Ganze, in die Gemeinschaft, in die göttliche Weltordnung.
Einzelne „Sondererlebnisse" sind z. B.: Goethes Beschäftigung mit Mystik, Alchimie, Naturwissenschaften; die Frauen in Goethes Leben, vor allen seine Treulosigkeit gegenüber Friederike Brion; die Hinrichtung der Kindsmörderin Susanne Margarethe Brandt in Frankfurt; in den Szenen an Kaiserhof sind die Erfahrungen aus der ersten Weimarer Zeit allegorisch verkleidet; Fausts Gang zu Helena ist Gleichnis für Goethes Weg zur klassischen Schönheit durch das Italienerlebnis, Helena selbst das klassische Ideal des Lebens in Schönheit; der Schluss der Euphorion-Episode ist angeregt durch den Tod des „faustischen" Lord Byron, Goethes Liebling, als Freiheitskämpfer in Griechenland (1824); die sozialen Unternehmungen des greisen Faust sind Verkleidungen für Goethes Alterstraum; als weiser Erzieher sein Volk zum Glück zu führen; weiter Goethes Anerkennung praktisch-nützlichen Dienstes an der Gemeinschaft; im Winter 1824/25 erschütterte Goethe die Kunde von gewaltigen Sturmfluten an der deutschen Nordseeküste, womit Fausts letzte Entwicklungsstufe als Kolonisator in Kampf mit den Meer gefunden war. Und noch vieles andere hat Goethe in den „Faust" „hineingeheimnist", wie er selbst sagte.
„Faust" ist eine der größten Schöpfungen der Weltliteratur und stellt sich neben die Epen Homers, Dantes „Divina Comedia" und das Gesamtwerk Shakespeares. Trotzdem bleibt er in Grunde ein unvollendeter Dom: Die Thematik ist weltumspannend gestellt, aber im Grunde nicht gelöst. Goethe selbst hat das Fragmentarische, die Unaufgelöstheit der Probleme des „Faust" schmerzlich empfunden. Wohl aber zeugt er von unergründlichem Reichtum Goethescher Lebensweisheit. Das Ausland sieht in dieser Dichtung den repräsentativsten Ausdruck deutschen Geistes.
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Bildquelle: Karl Joseph Stieler "Johann Wolfgang von Goethe im 80. Lebensjahr"; gemeinfrei, wikipedia