Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zu nächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtendezu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.(GBA 22, S.554)
Ein Beispiel dafür liefert Brecht selbst, als er im Alter von 24 Jahren für die Verleihung des Kleist-Preises (1922) sein Leben beschrieb:
Ich habe das Licht der Welt im Jahr 1898 erblickt. Meine Eltern sind Schwarzwälder. Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Einge-wecktseins in einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben. Auf der Universität hörte ich Medizin und lernte das Gitarrespielen. In der Gymnasiumszeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herz-schock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte. Während der Revolution war ich als Mediziner an einem Lazarett. Danach schrieb ich einige Theaterstücke, und im Frühjahr dieses Jahres wurde ich wegen Unterernährung in die Charité eingeliefert. Arnolt Bronnen konnte mir mit seinen Einkünften als Kommis nicht entscheidend unter die Arme greifen. Nach 24 Jahren Licht der Welt bin ich etwas magerer geworden.
(Brecht, zit. nach Hecht 1997, 147f.)
Anmerkung
Revolution: 7. November 1918 Novemberrevolution in München; Januar 1919 Spartakusaufstand in Berlin.
Arnolt Bronnen, Freund Brechts, verdiente seinen Unterhalt als Warenhausangestellter (Kommis) in Berlin.
Brechts „V-Effekt" nutzen