“Cuncta fluunt, omnisque vagans formatur imago”
„… Denn stillstehen kann weder Fluss noch die flüchtige Stunde,
sondern wie die Woge von der Woge getrieben
und im Hineintauchen zugleich gedrängt wird
und die Vorgängerin verdrängt,
so fliehen die Zeiten und folgen zugleich.
Stets sind sie neu, denn was vorher gewesen ist, das ist vorüber;
es wird, was nicht war,
und der Augenblick entsteht neu.“
(Ovid, 43 v. Chr. - 17 n. Chr., Metamorphosen)
Als ich diese Zeilen von Ovid las, dachte ich sofort an Kohelet 3,1-14, den Prediger des Alten Testamentes, der vermutlich in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts vor Christus lebte. Ob der Verfasser König Salomon war, ist wissenschaftlich umstritten. Wie dem auch sei, vielleicht hat der Verfasser sich wie Ovid vom Spiel der Wellen am Ufer eines Meeres inspirieren lassen.
Da ich an der Nordsee lebe, ist mir dieses Bild wohlbekannt. Steht man im Herbst am menschenleeren Strand, und betrachtet das unablässige Heranrollen der Wellen und ihr Auslaufen im nassen Sand, dann können schon Gedanken über das Leben im Strom der Zeit auftauchen, Anklänge des eigenen Lebens im Wellenspiel.
Dann tauchen Erinnerungen auf an die Kindheit und Jugend, an Lachen und Lieben, an Zeiten des Studierens aber auch Erinnerungen an Loslassen müssen, Trennung, an Weggehen, um neu zu beginnen.
Alles hat seine Zeit.
Alles gehört im Leben dazu, gute Zeiten und schlechte Zeiten, Hoffnung und Enttäuschung, wie die Wellenberge und die Wellentäler in der See.
Fällt dann der Blick auf das Auslaufen der Wellen am Strand, die beim Zurückfließen den Sand jedes Mal geglättet zurücklassen - alle Spuren im Sand sind nun verwischt - denkt man: Das ist wie so manches, was „uneben“ war im Leben und das die Zeit geglättet hat. Es mahnt aber auch an, dass alles in „seiner Zeit“ nur erreicht werden kann, verpasst man diese Zeit, dann ist „es“ nicht zurückzuholen; das Tröstliche dabei, es entstehen auch immer wieder
neue Chancen:
„denn was vorher gewesen ist, das ist vorüber;
es wird was nicht war, und der Augenblick entsteht neu.“
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Bilder: H. Kihm