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Christoph Werner

Buckingham Palace
Roman

Durch Zufall gerät Weimar in das Blickfeld des britischen Geheimdienstes, als dieser versucht, die englische Monarchie vor den Offenbarungen ihrer eigenen Vergangenheit zu schützen. - Ein spannender Roman, der den Leser in die Welt der Macht führt. Dabei wird ihm einiges abverlangt, denn die Handlung ergibt sich aus einem Puzzle von Szenen und erfordert detektivisches Gespür.

Auch als E-Book erhältlich 

Schilfrohr-Blues

Schilfrohr-Blues

Christina-Maria Jahn

Der Wecker klingelte pünktlich halb acht. Doch wie jeden Morgen seit nunmehr zwei Monaten drückte Hella auf Snooze. Der Vorgang wiederholte sich um die fünfzehn Mal, bis die junge Frau tief seufzte und sich gegen elf Uhr endlich aus den Laken schälte.
Sie zog die Vorhänge zurück und blickte in das bleierne Antlitz eines verwaschenen Märzmorgens: Same shit different day. Die Wolken hingen tief und nass über den Landungsbrücken. Vereinzelt kreisten ein paar Möwen über dem dreckigen Spülwasser, das sich Elbe schimpfte. Der Wind blies die schwarz gekleideten Menschen wie Spielfiguren vor sich her. Nur einige Penner, wohl angetrieben von Hunger und Turkey, widersetzten sich dem eisigen Nordwind. Sie staksten übermütig auf die Spielmännchen zu, schnatterten, warteten, hofften für dreißig Sekunden inbrünstig auf ein paar Cent, nur um am Ende mit leeren Händen und gesunkenen Mut einen neuen Versuch zu wagen. Hella kamen sie vor wie Schilfrohre im Wind, die Schwächsten der Natur, innerlich ausgehöhlt und leer, passiv, auf Erbarmen wartend, Spielbälle einer höheren Macht.

Sie wendete angewidert ihr Gesicht ab. Die Szene tat ihr in der Seele weh. Jene perfide Mischung aus leidenschaftlicher Hoffnung und ignoranter Übermacht drohte die Büchse der Pandora zu öffnen, die sie seit zwei Monaten so hartnäckig zu versiegeln versuchte. Aber es war zu spät, ihre Gedanken rasten bereits.
Wem machte sie was vor: War sie nicht auch ein Schilfrohr im Wind? So machtlos, so mickrig, so schwach? Und ob sie das war, gottverdammt! Eine elende Versagerin, die einfach nicht über die Vergangenheit hinwegkam und die halbe Nacht aufblieb, weil sie sich vor ihren Träumen fürchtete. Weil sie in ihren Träumen verletzt, verfolgt und gefangen gehalten wurde, brachte sie infolgedessen ihre Tage damit zu, arme Obdachlose mit Schilfrohren zu vergleichen. Ja nice! Sie hatte sie doch nicht mehr alle! Wann bekam sie endlich ihr Leben auf die Reihe? Ja, und was nahm sie sich überhaupt raus? Wenn, dann glich sie doch selbst so einem beschissenen Schilfrohr. So hohl wie sie war, war das wohl nicht mal der schlechteste Vergleich.
Doch neben der maßlosen Wut auf sich selbst, beschäftigte Hella noch etwas anderes: Es war nicht immer so gewesen. Sie hatte sich nicht immer als machtloses, passives Schilfrohr gefühlt.
Vor genau einem Jahr, hatte sie an einem 11. März die Kerzen eines Kuchens ausgeblasen und Theos Hand gedrückt, danach hatten sie sich ein Geschwistertattoo stechen lassen und auf der Reeperbahn gefeiert. Sie fuhr unwillkürlich über den kleinen Anker an ihrem linken Handgelenk.
„Eine Stadt ohne Hafen ist eine Stadt ohne Hoffnung“, hatte er gesagt und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben.
Der helle Schmerz durchzuckte Hella und die Tränen schossen ihr in die Augen. Doch während sie gegen das Brennen in ihren Augenwinkeln ankämpfte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf:
Alles ist neu, aber alles ist alt.
Obwohl der Autounfall von Theo ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte, so hatte sich im Grunde nichts geändert. Schon vor einem Jahr, damals noch glückstrahlend und selbstbewusst, war sie bereits ein Schilfrohr gewesen, das Schwächste der Natur, ein Gefäß kosmischer Launen und Zufälle. Nur meinte es damals der Zufall gut mit ihr, denn sie war erfüllt von Liebe. Und diese Liebe machte sie stark.
Nun da Theo tot war, liebte sie zwar noch immer, aber es war eine leere Liebe, die sie schwach und krank zurückließ. Aber die Liebe selbst blieb gleich.

Hella überlegte weiter: War es möglich, dass ihre Liebe diesem urmächtigen Wind glich, der die Schilfrohre zum Summen brachte? Handelte es sich bei der Liebe um eine unermessliche Kraft, die durch die Menschen hindurchströmte und ihnen eine Stimme verlieh? Eine Stimme mit der man lachen, singen und für sich einstehen konnte. Eine Stimme voller Mut und Zerbrechlichkeit, die nur dann freigesetzt wurde, wenn sie sich fest an jemanden band. Eine Stimme die einem im Hals stecken bleiben und versagen konnte, wenn die Liebe, die sie schuf, ein jähes Ende fand.

Wahrlich, die Liebe war eine Stimme die niemanden gehörte und die ein jeder zu sprechen fähig war. Zwar war es möglich, sie ebenso schnell wieder zu verlernen, aber vergessen konnte sie niemand, der sie einmal vernommen hatte. Die Liebe brauchte sich nicht zu waffnen um die Liebenden zu zermalmen, sie musste einfach nur gehen und an den fernen Ort zurückkehren, dem sie einst entsprungen war. Dann gab es nichts was den Schilfrohren Leben einflößte und sie vegetierten vor sich hin, in der lächerlichen Hoffnung, die Vergangenheit möge sich eines Tages wiederholen.

Hellas Herz war schwer von Kummer. Betrübt blickte sie auf die Landungsbrücken, die hinter dichten Nebelschwaden leise zu erahnen waren. Sie presste ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas und schloss die Augen: „Komm doch zurück, du fehlst mir so.“
Als Hella die Augen wieder öffnete, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Einen kurzen Augenblick erwog sie sogar, ob sie noch träumen würde: Die Promenade vor den Landungsbrücken war in goldenen Sonnenschein getaucht. Menschen hatten sich auf den Bänken niedergelassen und genossen die Wärme auf ihrer sonnenarmen Haut. Einer von ihnen war ein Obdachloser, der seinen zermürbenden Bettelgang offensichtlich gegen ein kleines Sonnenbad getauscht hatte. Kniff man beide Augen zusammen, unterschied ihn nichts von dem schlipstragenden Banker, der sich eine Bank weiter sonnte. Plötzlich steuerte eine alte Frau mit weißem, hochgestecktem Haar, zielsicher auf den buckeligen Obdachlosen zu. Sie tippte ihn forsch auf die Schulter, lachte laut schallend und setzte sich kurzerhand neben ihn auf die Bank. Beide gestikulierten wild, kicherten wie verliebte Teenager und schienen mit einem Mal zwanzig Jahre jünger. Auf ihren Gesichtern lag ein geheimnisvolles Strahlen und durch ihre Schilfrohr-Kehlen sprach die Liebe. Da begriff Hella endlich: Die Liebenden waren stärker als die Liebe. Die Liebe kam und ging, wie es ihr gefiel, aber die Liebenden blieben Liebende. Auch wenn sie sich aus den Augen verlieren sollten, so waren sie durch ihre Liebe auf ewig miteinander verbunden. Hella war sich sicher: Auch wenn ihre Liebe ins Leere lief, nie würde, nie könnte sie aufhören, Theo zu lieben. Darin lag ihre unermessliche Stärke. Sie war ein Schilfrohr, durch das die Liebe, der heilige Wind, brauste, und dass sich dieser Liebe bewusst war. Sie konnte lieben, war der Liebe fähig und wusste obendrein davon. Nicht nur die Liebe flößte ihr Lebensmut ein, auch sie hielt die Liebe am Leben, hielt sie fest und warm in ihren Erinnerungen, ihren Gedanken und ihrem Herzen. Sie war eine Liebende, die lieben konnte, die noch einmal lieben würde. Die Liebe wusste davon nichts.

Hella atmete tief und schüttelte sich, als könne sie damit allen Ballast von sich werfen, dann erinnerte sie sich an Theos selbstgewähltes Mantra und rief laut: „Hamburg du elendes Miststück!“.

 

***

Foto: Christina-M. Jahn

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