Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im August 1954 bedeutete nicht den Zerfall der Si¬cherheits- und Integrations¬politik des Westens. Man fand sofort eine Alternativ¬lösung. Auf Anregung des britischen Premiermi¬nisters, Anthony Eden, fanden im September und Oktober 1954 Konferenzen der be¬troffenen Staaten in London und Paris statt, und man beschloss die Umgestaltung des Brüsseler Vertrags von März 1948 in eine Westeuropäische Union (WEU). Dies wurde in den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954 festgehalten. Nach ihrem Inkrafttreten wurde die Bundesrepublik Deutschland in die NATO angenommen (Mai 1955).
Die Pariser Verträge sind ein Vertragswerk, welches das Besatzungsstatut von Westdeutschland beendete und Westdeutschland die Souveränität verlieh (die allerdings bis zur Wiedervereinigung 1990 durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt war).
Das Vertragswerk enthält folgende Einzelverträge:
Deutschlandvertrag (weitgehende außenpolitische Souveränität)
Beitritt zur WEU
Beitritt zur NATO
Abkommen zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über das Statut der Saar
Die Verträge wurden am 23. Oktober 1954 von den Mitgliedern der Westunion, der Bundesrepublik Deutschland und Italien in Paris unterzeichnet, am 27. Februar 1955 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert. Sie traten am 5. Mai 1955 in Kraft. In diesem Zusam-menhang erklärten die Westmächte, dass sie die Bundesre¬gierung grundsätzlich an Entschei-dungen der Besatzungsmächte teilhaben lassen wollten, die das unter Viermächte¬verwaltung ste¬hende Berlin betrafen.
Adenauer blieb entschlossen, die Bundesrepublik fest im freien Westen zu verankern und wollte nicht in den Verdacht der Schaukelpolitik kommen. Er lehnte Bündnislosigkeit ab - so wie Bundeskanzler Kohl 1990.
Eine Vierer-Konferenz erschien ihm wie im Jahre 1952 erst nach Inkrafttreten der Verträge sinnvoll. Am 26./27. Februar 1955 wurde in 2. und 3. Lesung im Bundestag abgestimmt. Für den Beitritt zum Brüsseler Pakt und zur NATO stimmten 314, dagegen 157 Abgeordnete bei zwei Stimmenthaltungen. Die SPD be¬harrte für den militärischen Bereich auf der Konzeption einer Teilnahme Deutschlands an einem kollektiven Sicherheitssystem, bei dem die potentiellen Gegner durch den Mecha¬nismus des Vertrages verbunden und alle Teil¬nehmer verpflichtet sein würden, gegen denjenigen unter ihnen zusammen zu stehen, der den Frieden bräche. Am 5. Mai 1955 erlangte die Bundesrepublik Deutschland ihre Quasi-Souveränität. Am 7. Mai hielt der Rat der WEU seine konstituierende Sitzung ab.
Im Auswärtigen Amt hatte man längere Zeit an dem Projekt ei¬ner politischen Union Europas festgehalten. Schließlich setzte sich aber die Überzeugung durch, dass alle politischen Bemühungen um einen Zusammenschluss der europäischen Staaten ohne die Zusammenfas¬sung ihres wirtschaftlichen Potentials wirkungslos bleiben würden.
Man wandte sich den Problemen der wirtschaftlichen Integration zu. Im Zusammenhang mit den Beratungen über eine Europäische Politische Gemeinschaft war ein von dem holländischen Außen¬minister Beyen im Februar 1953 vorgelegter Vorschlag zu einer wirtschaftli¬chen Integration Europas im Rahmen der Sechs mit dem Ziel der Schaffung eines gemein¬samen Marktes und einer Zollunion behandelt und grundsätzlich gutgeheißen worden.
Die Initiative zur Überwindung des Misserfolges der EVG ging von dem belgischen Außenminister Spaak aus. Am 20. Mai 1955 übermittelte er ein mit seinen niederländischen und luxemburgischen Kollegen erarbeitetes Memorandum an die anderen drei Mitgliedsländer der EGKS. Es sollte der Versuch gemacht werden, die politische Einigung Westeuropas durch die Hintertür der wirtschaftlichen Integration zu erreichen. Adenauer beurteilte die Spaak-Initia¬tive mit geteilten Gefühlen, weil er befürchtete, dass die wirtschaftlichen Aufgaben von der Hauptaufgabe, nämlich der Schaffung der politischen Union, ablenken könnten. Die bevorste¬hende Genfer Gipfelkonferenz (18.-23. Juli 1955) war für die Bundesregierung kein Grund zum Zögern, und zwar aus ihrer Überzeugung heraus, dass die UdSSR auf das Ziel der Weltre¬volution erst verzichten würde, wenn es endgültig die Hoffnung verloren hätte, die europäi¬sche Einigung verhindern zu können, und dass nur die europäische Einigung ein halt¬bares Fundament für eine Ost-West-Verständigung sein würde. Auf einer Tagung der sechs Montan-Gemeinschaftsländer in Messina vom 1.-3. Juni 1955 lagen das Benelux-Memoran¬dum, ein deutsches Memorandum und ein italienisches Memorandum vor. Es wurde eine neue Phase auf dem Weg zum Bau Europas einzuleiten beschlossen. Die Schaffung ei¬nes verei¬nigten Europa sollte durch die Weiterentwicklung gemein¬sa¬mer Institutionen, durch die schrittweise Fusion der nationalen Wirt¬schaften, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozialpolitik fortge¬setzt werden.
Im Januar 1956 sah sich Bundeskanzler Adenauer nach einer Ini¬tiative der britischen Regierung, in der OEEC eine Diskussion über die Vereinbarkeit der Messina-Initiative mit den Interessen und Zielen der OEEC herbeizuführen, und in Hinblick auf die weltpoli¬tische Lage nach dem Scheitern der Genfer Gipfel¬konferenz zu einer Richtli¬nienweisung an alle Bun¬desminister veranlasst, in der es hieß, der Beschluss von Messina müsse entschlossen und unverfälscht gemäß seinem politischen Charakter durchgeführt werden, der nicht allein eine technische Kooperation aus fachlichen Erwä¬gungen, sondern eine Gemeinschaft herbeiführen solle, die die gleiche Richtung des politischen Wollens und Handelns sichere:
Anweisung von Konrad Adenauer an die Bundesminister
(19. Januar 1956)
Die gegenwärtige außenpolitische Lage enthält außerordentliche Gefahren. Um sie abzuwenden und eine günstige Entwicklung einzuleiten, bedarf es entschlossener Maßnahmen. Dazu gehört vor allem eine klare, positive deutsche Haltung zur europäischen Integration.
In dieser europäischen Integration sehen die entscheidenden Staatsmänner des Westens den Angelpunkt der Entwicklung, wie besonders meine Gespräche mit Pinay und Spaak und sehr bestimmte amerikanische politische Erklärungen gezeigt haben. Diese Auffassung ist zweifellos richtig. Wenn die Integration gelingt, können wir bei den Verhandlungen sowohl über die Sicherheit wie über die Wiedervereinigung als wesentliches neues Moment das Gewicht eines einigen Europas in die Waagschale werfen. Umgekehrt sind ernsthafte Konzessionen der Sowjetunion nicht zu erwarten, solange die Uneinigkeit Europas ihr Hoffnung gibt, diesen oder jenen Staat zu sich herüberzuziehen, dadurch den Zusammenhalt des Westens zu sprengen und die schrittweise Angliederung Europas an das Satellitensystem einzuleiten. Hinzu kommt, dass die dauerhafte Ordnung unseres Verhältnisses zu Frankreich nur auf dem Wege der europäischen Integration möglich ist. Sollte die Integration durch unser Widerstreben oder unser Zögern scheitern, so wären die Folgen unabsehbar.
Daraus ergibt sich als Richtlinie unserer Politik, dass wir den Beschluss von Messina entschlossen und unverfälscht durchführen müssen. Noch stärker als bisher muss der politische Charakter dieses Beschlusses beachtet werden, der nicht allein eine technische Kooperation aus fachlichen Erwägungen, sondern eine Ge¬mein¬schaft herbeiführen soll, die (auch im Interesse der Wiedervereinigung) die gleiche Richtung des politischen Willens und Handeins sichert. Der OEEC-Rahmen gen&uuuml;gt dafür nicht. In den Dienst dieser politischen Zielsetzung müssen alle fachlichen Erwägungen treten.
Insbesondere muss für die Durchführung des Programms von Messina folgendes gelten:
1. Die Integration zunächst unter den Sechs ist mit allen in Betracht kommenden Methoden zu fördern, also sowohl auf dem Gebiet der allgemeinen (horizontalen) Integration wie bezüglich der geeigneten (vertikalen) Teilintegration.
2. Hierbei ist von vornherein nach Möglichkeit die Schaffung geeigneter gemeinsamer Institutionen anzustreben, um im Sinne der großen politischen Zielsetzung eine feste Bindung der Sechs herbei¬zuführen.
3. Die recht gut gelaufenen Beratungen über die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes - d.h. eines Marktes,
er einem Binnenmarkt ähnlich ist - müssen mit Nachdruck zu Ende geführt werden. Dabei müssen europäische Organe mit
ntscheidungsbefugnissen geschaffen werden, um das Funktionieren dieses Marktes zu sichern und gleichzeitig die politische Weiterentwicklung zu fördern.
. Ausgehend von dem Gedanken des Gemeinsamen Marktes muss auch für den Verkehr eine echte Integration der Sechs angestrebt werden. Das gilt insbesondere von der Luftfahrt; eine grundsätzliche Ablehnung oder Verzögerung von Integrationsplänen für die Produktion, das Beschaffungswesen und die Betriebsführung auf diesem Gebiet ist politisch nicht zu verantworten.
. Das gleiche gilt für die Energie, insbesondere die Kernenergie. Es ist eine zwingende politische Notwendigkeit, jeden Zweifel darüber zu beseitigen, dass wir nach wie vor zu unseren Erklärungen von Messina stehen, wonach eine europäische Atomgemeinschaft mit Entscheidungsbefugnissen, gemeinsamen Organen und gemeinsamen Finanz- und sonstigen Durchführungs¬mitteln gegründet werden soll. Die Amerikaner sehen, wie sie offiziell erklärt haben, in einer europäischen
Atomgemeinschaft, die im Gegensatz zur OEEC eigene Rechte und Verantwortlichkeiten hat, ein entscheidendes Moment der politischen Entwicklung. Sie sind bereit, eine solche Atomgemeinschaft mit allem Nachdruck zu unterstützen.
Andererseits lässt sich nach Auffassung der Weltöffentlichkeit die friedliche Nutzung der Atomenergie von der Möglichkeit der Herstellung von Atombomben praktisch nicht trennen. Der deutsche Versuch einer rein nationalen Atomregelung würde daher vom Ausland mit größtem Misstrauen aufgenommen werden. Insbesondere können wir, wenngleich selbstverständlich Deutschland nicht diskriminiert werden darf und die deutsche Forschung und Industrie möglichst freien Raum erhalten müssen, eine gemeinsame europäische Bewirtschaftung einzelner Stoffe nicht ablehnen, wenn sie aus Sicherheitsgründen erforderlich ist.
Ich bitte, das vorstehend Dargelegte als Richtlinien der Politik der Bundesregierung (Art. 65 GG) zu betrachten und danach zu verfahren.
gez. Adenauer
Die in dem Spaak-Bericht enthaltenen Vorschläge wurden am 30. Mai 1956 auf einer Außenministerkonferenz in Venedig als Verhandlungsgrundlage für die Ausarbeitung von Verträgen für einen allgemeinen gemeinsamen Markt und für die Schaffung einer Europäischen Organisation der Kernenergie angenommen. Offen blieben die überraschend von Frankreich bemängelte Nicht-Einbeziehung der überseeischen Gebiete in den gemeinsamen Markt sowie die mit einer militärischen Nutzung der Kernenergie und die mit der Versorgung der Gemeinschaft mit Kernbrennstoffen zusammenhängenden Fragen. Die Vertragsverhandlungen begannen am 26. Juni 1956 in Brüssel unter Vorsitz von Paul Henri Spaak.
Zur Überwindung der bei den Verhandlungen aufgetretenen Schwierigkeiten fand am 20. und 21. Oktober 1956 in Paris eine Außenministerkonferenz statt, an der für die Bundesrepublik Deutschland Bundesaußenminister von Brentano, Bundeswirtschaftsminister Erhard und der Bundesminister für Atomfragen Strauß teilnahmen. Die Konferenz endete mit einem völligen Fehlschlag, der das Scheitern des in Messina so hoffnungsvoll unternommenen neuen Anlaufs für die europäische Einigung in greifbare Nähe rückte.
Am 6. November 1956 reiste Adenauer zu weiteren Verhandlungen nach Paris. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die UdSSR und die militärischen Operationen Frankreichs und Großbritanniens am Suez ließen die Bedeutung der Schwierigkeiten schrumpfen, die bei den Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt und Euratom aufgetreten waren. Die Ergebnisse der bilateralen deutsch-französischen Einigung erwiesen sich bei den weiteren Vertragsverhandlungen in Brüssel als geeignet für übereinstimmende Regelungen zwischen allen sechs Partnern in den bis dahin strittigen Fragen.
Der Bundestag wurde am 21. März 1957 mit einer von Staatssekretär Walter Hallstein abgegebenen Regierungserklärung über die Etappen der Vertragsverhandlungen und den Vertragsinhalt unterrichtet.
Die Unterzeichnung der Verträge, die als „neue Beweise europäischen Selbstbehauptungswillens" angesehen wurden, fand am 25. März 1957 in Rom statt. Der Kern des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist die Schaffung einer mit eigenständigen Befugnissen ausgestatteten Gemeinschaft von Staaten. Der Vertrag regelt nicht wie ein gewöhnliches Wirtschafts- und Handelsabkommen nur Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten auf zwischenstaatlicher Grundlage.
Er wurde abgeschlossen in dem „festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss europäischer Völker zu schaffen" und ruft ein europäisches Gebilde mit besonderen organisatorischen Elementen ins Leben. Das Fundament der Gemeinschaft ist ein gemeinsamer Markt, der durch eine Zollunion geschaffen wird. Ein gemeinsamer Außenhandelszolltarif und eine gemeinsame Außenhandelspolitik sind die Kennzeichen des gemeinsamen Marktes nach außen. Auch die Landwirtschaft unterliegt grundsätzlich den Regeln des Vertrages. Bis zum Ende der Übergangszeit sollen ferner der freie Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr hergestellt werden.
Die Bundesregierung sah die abgeschlossenen Verträge als einen europäischen Beitrag zu der atlantischen Politik der Eindämmung des sowjetischen Expansionsdranges und als einen großen Schritt auf dem Wege zur Einheit Europas an. Sie hoffte, dass der wirtschaftliche Zusammenschluss auch politische Folgen nach sich ziehen würde. Adenauer begegnete den Argumenten, dass die verfassungsrechtlich konstruierten Organe der Gemeinschaft motorische Kräfte für eine weitere Integration entwickeln würden, und dass der in den Verträgen liegende Sachzwang automatisch zu einem politischen Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten führen werde, mit der Skepsis seines politischen Verstandes.
Er war sich klar darüber, dass die Entwicklung Zeit brauche. „Das Ziel selbst aber", so seine Worte, „müsste, auch wenn Jahre dahingehen sollten, bis es erreicht sein würde, unverrückt im Auge behalten werden: die politische Einheit Europas". Bereits Anfang Mai 1957 behandelten Bundesrat und Bundestag die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft in erster Lesung; sie wurden am 5. Juli 1957 „mit sehr großer Mehrheit", das heißt mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD, angenommen. Am Ende ihrer Amtszeit konnte die zweite Adenauer-Regierung auf die abgeschlossenen Römischen Verträge als Höhepunkt ihrer Europapolitik zurückblicken.
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Der Autor: Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann, Professor für europäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena