„Am 7. Januar 1879 verstarb in Nonnweiler (Nord-Saarland d. V.) in seiner Wohnung der Veteran Friedrich Hohnecker, 92 Jahre alt, geboren in Templin, …“. Soweit in knappen Worten das amtliche Sterberegister.
Friedrich Hohnecker war königlich-preußischer Soldat. Nach der Schlacht von Waterloo (1815) wurde er als Treibholz jener bewegten Zeit in dem stillen Hochwalddorf Nonnweiler an Land geschwemmt, er vertauschte die Muskete mit dem Schnitzmesser des Pfeifenmachers. Bald wurde er in die Zunft der Pfeifenmacher aufgenommen. Vetter Fritz, so heißt es in der Chronik, bewahrte in allen Schwierigkeiten und Sorgen seinen Humor. Er war ein guter Erzähler und war an den langen Winterabenden ein gesuchter Mann. Seine Geschichten stellten alles in den Schatten, was man bisher in den Dorfschenken und „Meisstuben“ seit Menschengedenken hörte. Seine „feine“ Sprache, seine gewaltige Phantasie, die aus einem abenteuerlichen Leben schöpfen konnte, der überall eingestreute Humor und nicht zuletzt die selbstgemachten Verse, bezauberten die Zuhörer. Der Nimbus des alten Kriegsveteranen verstärkte die Wirkung. Wagte es aber einer, an der Wahrheitseiner Geschichten zu zweifeln, so verfiel Vetter Fritz in die hohe Sprache der Dichter:
„Ich war in Warschau und in Wien,
in Potsdam und Berlin,
In Russland und in Polen,
der Teufel soll mich holen,
wenn es nicht ist!“
sprach’s, stand wütend auf und verließ zürnend seine verdutzten Zuhörer.
Trotz seiner
allgemeinen Beliebtheit war er nicht auf Rosen gebettet. Auch für die Pfeifenmacher
hatte die Stunde geschlagen. Auf den Märkten der Mosel, Saar und Nahe wurden
ihre Erzeugnisse verdrängt. Man fand lohnende Beschäftigung in der mächtig
aufblühenden Kohlen- und Eisenindustrie des Saarbeckens. Er ließ sich von
diesen Vorgängen kaum beeinflussen. Er war zwar alt geworden, dachte aber nicht
ans Auswandern oder Industriewandern. Auch erwarb er sich Ansehen als
Kräutersammler. Als die bunte Lampe seiner Phantasie erloschen war, trauerten
um ihn eine stattliche Zahl von Kindern, Enkeln und Urenkeln und ein ganzes
Dorf, das seinen ungeschlagenen Meister der Erzählkunst verloren hatte. Einige
der Nachkommen kamen nach Wiebelskirchen als Industriewanderer.
Aus diesem Zweig stammt Erich Honecker in der Saarland-Lese, dem ich 1984 die Geschichte seines Ahnen zusandte mit der Anfrage, ob ich mit saarländischen Abiturienten ihn zu einem Gespräch besuchen könnte. Ich war ziemlich überrascht, wenige Tage später von der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundesrepublik Deutschland einen Anruf zu erhalten, ich könnte kommen. Als Studienleiter der Europäischen Akademie Otzenhausen (Nord-Saarland) führte ich seit 1982 vier-fünfmal im Jahr Informations- und Begegnungsreisen in die DDR durch. Deutschlandpolitische Themen im europäischen Kontext machten einen gewissen Teil der damaligen Bildungsarbeit aus. Inhaltlich wurden Lehrer und Schüler auf einen solchen Aufenthalt von mir und anderen DDR-Experten vorbreitet. Die Kenntnisse der Westdeutschen über die DDR waren nämlich marginal. Diese Reisen waren auch mit erheblichem organisatorischem Aufwand verbunden. Es waren dicke Bretter zu bohren.
Dann war es soweit: Am 29. Mai 1984, 10 Uhr sollten wir im Staatsratsgebäude der DDR sein um mit Honecker zu sprechen. Am Vorabend wurden die sonst so coolen Abiturienten nervös. Sie baten mich, Fragen an den Staatspräsidenten zu formulieren, weil ihnen keine einfielen. Ich kannte es, wenn die Birne plötzlich leer wird. Aber „vorformulieren“ – nein, das gab es nicht. Gut, dass ich so reagierte; denn nach dem Besuch fragten die Journalisten, ob sie die Fragen eigenständig stellen durften, oder die Lehrer und der Dr. Timmermann die Fragen verfassten.
Honecker wird auch von einigen Historikern als wenig charismatisch in seinen öffentlichen Auftritten und als nicht sonderlich redebegabt beschrieben, während ihm andere eine gewisse Rhetorik zugestehen. Ich empfand ihnbisher als einen regungslosen Apparatschik, als hölzern und ungelenk. Doch das war ein nicht zu bestätigendes Vorurteil:
Vor dem Empfang konnte ich ca. 15 Minuten mit ihm unter vier Augen sprechen. Ehrlich gesagt: Ich weiß heute nicht mehr, was ich mit ihm besprach. Nur eines: Ich übergab ihm im Laufe des Gesprächs eine Notiz, nach der ich gerne in der Europäischen Akademie Otzenhausen Kolloquien mit Beteiligung von Wissenschaftlern aus der DDR durchführen möchte: Historiker, Staatswissenschaftler, Theologen. „Ja, machen Sie“, sagte er zu mir. „Aber die dürfen nicht“, entgegnete ich. „Doch, die dürfen“, erwiderte er. Ja, er hielt Wort. Später konzipierte und organisierte ich nationale und internationale Kolloquien mit Gesellschaftswissenschaftlern und Theologen aus der DDR, Bundesrepublik, aus Polen und Frankreich.
Vor dem Empfang und Gespräch gab eseinen Rundgang durch das Staatsratsgebäude. Dann der Empfang und das anschließende Gespräch. Eine Menge von Presse- und Fernsehleuten bildete einen äußeren Rahmen.
Honecker begrüßte lächelnd und jovial die jungen Menschen, ging auf sie zu, gab ihnen die Hand, wirkte sehr leutselig, nichts war vom Apparatschik zu spüren, er fragte, ob man da und dort noch schwimmen könne. Das Eis war gebrochen. Geschenke wurden ausgetauscht, die – mit einer Ausnahme – von ihm an seine Begleitung weitergereicht wurden. Die Ausnahme war ein Bildband über das Saarland, den ihm die Schüler schenkten. Fotos wurden von offizieller Seite geschossen. Dann ging es ohne Presse und Fernsehen in einen Raum, um mit ihm zu sprechen.
Nochmalige Begrüßung, Eröffnung durch Honecker. Dann sprach er über die DDR, ihre Bevölkerung, Planzahlen, Wirtschaftszahlen, die dortigen Kommunalwahlen, den Wohnungsbau, über Außen- und Wirtschaftspolitik und bat um Fragen. „Mein Gott“, dachte ich bei mir. „Das musst Du doch irgendwie aufschreiben". Ich fand in der Innenseite meines Jacketts eine zweiseitige, mit der Schreibmaschine geschrieben Notiz mit der Aufschrift „Die Deutsche Frage als europäische Frage“. Welch ein Zufall!
Der Begriff des Palimpsets fiel mir ein: Palimpsest ist der bereits in der Antike verwendete Begriff für eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder -rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde (lat. codex rescriptus). Es ist der Vorgang des Wiederbeschreibens, den man – entgegen der etymologischen Bedeutung – als Palimpsestieren bezeichnet. Die Gründe für dieses Vorgehen waren Mangel und hoher Preis von neuem Schreibmaterial. Klar, bei mir war es der Mangel an Papier, und ich schrieb zwischen die Zeilen das Wesentliche von unserem Gespräch. Die Merziger Schüler erkundigten sich nach Jugendaustausch und kirchlicherJugendarbeit, nach der Friedensbewegung in der DDR, nach dem Fernbleiben der DDR-Sportler bei den Olympischen Spielen. Sie sprachen den Besuchsverkehr, die innerdeutsche Grenze, Devisenfragen, den Begriff der Toleranz sowie die deutsch-deutsche und die internationale Situation an und die Möglichkeit eines Besuches von Honecker in 1984 in der Bundesrepublik mit Station im Saarland. Honecker, der sich optimistisch zur Realisierung seines Besuchs zeigte, versagte sich keiner der gesellten Fragen, wenn auch die Schüler nicht mit allen Antworten zufrieden waren. Diskutiert wurden auch harte Themen: Funktion von Wahlen, Wahlsysteme, Mauer, Schießbefehl.
Die Beiträge von Honecker waren für die Saarländer zu diesen Themen nicht befriedigend:
Dann war die Zeit um, wir verließen das Staatsratsgebäude. Draußen erwartete uns eine große Schar von Presse- und Fernsehleuten. Und einer der Pressemenschen fragte: „Konntet Ihr die Fragen selber stellen, oder wurden diese von Euren Lehrern vorgegeben?“ Jetzt war ich doppelt zufrieden, dass ich am Vorabend die Formulierung von Fragen abgelehnt hatte.
Das Echo von Rundfunk, Fernsehen und der schreibenden Presse war enorm. In vielen DDR-Zeitungen gab es auf der zweiten Seite ausführliche Berichte. Auf der ersten Seite gab es Berichte über den am Vortage stattgefundenen Staatsbesuch von Kim-Il Sung. Na ja, Platz zwei ist auch nicht schlecht. Der saarländische Rundfunk berichtete an diesem Tage nahezu stündlich über den Besuch, das saarländische Fernsehsehen sendete einen Bericht im „Aktuellen Bericht“ (Abendnachrichten), die Saarbrücker Zeitung brachte ausführliche Artikel. Noch lange diskutierten die Schüler untereinander über dieses Gespräch. Zu Hause ging es weiter. Und weiter? Zwei Jahre später gab es die erste deutsch-deutsch-französisch-polnische Historikerkonferenz in der Europäischen Akademie Otzenhausen, danach jedes Jahr mehrere. Aus diesen entstanden manchen Publikationen und die DDR-Forschung in der Europäischen Akademie Otzenhausen.
Am Abend ließ Honecker mir eine signierte Bibliographie und ein Minibuch mit der DDR-Verfassung bringen. Zwei Wochen später erhielten wir ein Konvolut von Bildern der offiziellen Pressestelle der Protokollabteilung des Staatsrates.
Bei den weiteren Besuch- und Informationsreisen in die DDR legte ich in die Windschutzscheibe des Autobusses ein großes Bild. Honecker und ich. Das sollte die Einreise beschleunigen. Doch ich glaube, dass die Grenzorgane der DDR ohnehin wussten, wer da einreisen will.
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Fotos: Heiner Timmermann