Deutschland-Lese

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Der 1934 in Berlin geborene Manfred Meier hat den Untergang des Nazi-Regimes erlebt und als Schüler den nahtlosen Übergang in die nächste Diktatur erfahren. Der Zugang zur Universität wird ihm, der Kritik am Regime anbringt, verwehrt. Es gelingt ihm jedoch, sich als Kulturjournalist und Feuilletonredakteur beruflich zu etablieren. Seine Lebensgeschichte konzentriert sich auf die Hintergründe der politischen Wirklichkeit. Mit dem wachen Auge eine Intellekturellen analysiert er die Mechanismen der Kulturarbeit im totalitären Staat. Mit leiser Ironie gewährt er Einblicke in die wenigen Möglichkeiten zum Widerspruch, der ein Überleben samt Familie garantierte.

Manfred Meiers Bericht ist ein wichtiger Beitrag zum Verstehen eines schwierigen Kapitels deutscher Geschichte.

(erschienen in der Edition Steinbauer GmbH, Wien 2006)

Reisen mit leerem Geldbeutel

Reisen mit leerem Geldbeutel

Manfred Meier

„Nun weiß ich doch, dass ich wieder daheim bin.« - „Wie meinen Sie denn das?" Im weiteren Dialog mit dem DDR-Zollbeamten (aber Beamte waren die ja nicht) machte ich deutlich, dass es diese preußisch-strenge Art der Befragung sei, die ich beinahe schon vermisst hätte.

Wir waren von einem Silvesterausflug nach Budapest zurückgekehrt, und auf die Frage, ob ich Einkäufe getätigt hätte, die zu verzollen wären, antwortete ich wahrheitsgemäß mit Nein. Da donnerte der Uniformierte auf mich los, als spräche ein Feldwebel mit einem unbotmäßigen Untergebenen: „Sie wollen mir doch nicht erzählen, ... .." So der Auftakt zu einer wortreichen Belehrung) dass ich offensichtlich im Begriff sei, durch falsche Aussagen eine strafbare Handlung zu begehen, die man mir nicht durchgehen lassen würde.

Mein Fall war aber auch zu unwahrscheinlich. Die meisten Auslandstouristen brachten natürlich ein paar Souvenirs mit, und vielleicht war zuweilen auch etwas dabei, was nicht eingeführt werden durfte: ein hierzulande unerwünschtes Buch beispielsweise, ein nicht genehmes Produkt. Ich blieb gelassen. Wir hatten uns nur drei Tage in Ungarn bei Freunden aufgehalten, zum Einkaufen war gar keine Zeit geblieben: der Neujahrstag, ein Sonntag dazu, die Geschäfte zumeist geschlossen. Wir hatten Gespräch und Geselligkeit gesucht und keine Kaufambitionen gehegt. Also öffnete ich ruhig meinen Koffer, ließ den Feldwebel stöbern. Der förderte nach langem Suchen tatsächlich etwas vermeintlich Verbotenes zutage: ein winziges dekoratives Fläschchen, das wir als kleines Präsent von den Gastgebern bekommen hatten. Das war eigentlich mehr ein gläsernes Schaustück fürs Regal, ein Nippes, aber immerhin enthielt es eine geringe Menge Alkohol - einen Doppelten, schätze ich. Nun konnte der Schnüffler endlich seinen übertriebenen Zorn rechtfertigen. Anschließend erklärte er unerwartet milde, dass er darauf verzichten werde, mich wegen falscher Auskunft gegenüber einer staatlichen Behörde und Alkoholschmuggels zu belangen. Ich möchte meiner Wege ziehen und künftig mehr Ehrlichkeit bei Grenzkontrollen an den Tag legen.

Solche Vorfälle waren dem Umstand geschuldet, dass es auch bei Fahrten in die östlichen Länder stets Probleme mit dem Geld gab, vollends bei Individualreisen. Devisen waren knapp, die Umtauschsätze niedrig und streng limitiert, bei privaten Unternehmungen reiste man faktisch als armer Mann. Aber auch als Dienstreisende bekamen wir die Geldknappheit zu spüren, die Tagessätze lagen niedrig, der Spielraum für den zusätzlichen Umtausch war gering. Unsere Redaktion hatte aus der Not eine Tugend gemacht. Wir hatten in Prag und Warschau befreundete Redaktionen, mit denen wir kollegial zusammenarbeiteten. Bei notwendigen Reisen umgingen wir die lästigen Antrags- und Umtauschformalitäten, bezahlten den DDR-Aufenthalt etwa eines Prager Journalisten und entsandten bei nächster Gelegenheit einen unserer Mitarbeiter, dem die befreundete Redaktion Unterkunft und Tagegeld zahlte.

Von einem solchen Austausch profitierte auch ich einmal, als ich zum Musikfest „Prager Frühling" reiste. Ich hatte nur einen kleineren Geldbetrag umgetauscht, um für die ersten Ausgaben gerüstet zu sein: ein Taxi zum Hotel, ein Abendessen vielleicht. Der größere Betrag lag ja in Prag für mich bereit. Nun reisten wir bei solchen Gelegenheiten einfach mit dem Personalausweis, und in den hatten die DDR-Behörden ein vielfach gefaltetes Dokument, einen regelrechten Leporello, eingeklebt, auf dem für jede Reise die vorgesehene Aufenthaltsdauer und die umgetauschte Geldsumme eingetragen wurden.
Ich hatte beim Berliner Flughafen längst eingecheckt, als plötzlich meine Gepäcknummer aufgerufen wurde. Herr Meier werde dringend bei der Zollabfertigung erwartet. Da standen schon zwei Herren mit erwartungsvollem Lächeln bei meinem Koffer, den ich doch bitte einmal öffnen möchte. „Sie sind uns nämlich einfach so durchgeflutscht," sagte der eine schelmisch. Nun weiß jeder, der einmal DDR-Zöllner erlebt hat, dass solche Reden nur als schlechter Witz empfinden werden konnten. Ich versagte mir eine sarkastische Bemerkung und hob den Kofferdeckel. Nun ging das übliche Suchen los: Was ist da drunter, öffnen Sie mal die Waschtasche, packen Sie mal die Schuhe aus. Nach einigen Minuten wurde mir die Sache zu dumm und ich sagte leicht provokant: „So wird das nichts. Ich schlage vor, Sie sagen mir, was Sie suchen, und ich zeige Ihnen, wo es liegt."

Die beiden schluckten spürbar ob soviel Dreistigkeit, blieben aber höflich und erklärten die Sachlage. Sie hatten in meinen abgespeicherten Daten gelesen, dass ich für eine Woche nach Prag reisen wolle, aber nur hundert Mark umgetauscht habe. Und nun vermuteten sie in mir einen trickreichen Schmuggler, der irgendeinen raren Artikel mit sich führte, um ihn dort zu Überpreisen zu verhökern. Mit der Einladung durch die Prager Redaktion konnte ich mich mühelos von dem Verdacht befreien. Den Zöllnern war es ein bisschen peinlich, ausgerechnet einen Journalisten herausgefischt zu haben. Nicht auszudenken, wenn wir tatsächlich Pressefreiheit gehabt hätten und die Gefahr bestanden hätte, so ein Vorfall würde öffentlich gemacht.

Aber außer den kleinen Schikanen bei der Grenzkontrolle und den größeren Problemen mit dem leidigen Geld gab es für uns keine ernsten Schwierigkeiten bei Reisen in die östlichen Länder. Wer über die nötige Deckung seines Kontos verfügte, konnte sogar bis nach China reisen. Die halbe Welt also stand uns offen.

Nach der anderen Seite freilich, nach Westen hin versperrten uns Zäune, Selbstschussanlagen und Betonmauern den Weg. Meinen Enkelkindern, die sämtlich erst nach dem Verschwinden der DDR geboren wurden, kann ich heute nur schwer verständlich machen, warum ich damals zwar nach Budapest, nicht aber nach Venedig reisen durfte.

Als ich in den achtziger Jahren mit Kammersänger Peter Schreier zusammensaß, um als Mitautor an seiner Autobiographie zu arbeiten, stutzte er wohl bei meinen häufigen Zwischenfragen, die das Kapitel Salzburger Festspiele betrafen. „Waren Sie eigentlich mal in Salzburg", fragte er zögernd. Nein? Da müsste ich ja über den Gegenstand nachgerade wie der Blinde von der Farbe sprechen, meinte er durchaus zutreffend. Also fasste ich den Entschluss, Buchverlag, Redaktion und nicht zuletzt die Autorität des Künstlers zu nutzen, um eine Reise zu den Salzburger Festspielen zu beantragen. Das schwierige Procedere, mehrfache Ablehnungen, entwürdigende Behandlungen - das alles will ich hier nur kurz andeuten. Wenn ein Antrag zurückgewiesen wurde, so geschah das übrigens meist auf unauffällig-dezente Art: Sie ließen den Vorgang so lange unbearbeitet und also unerledigt liegen, bis der eigentliche Anlass vorüber war. Eine Begründung, warum etwas nicht genehmigt wurde, war ohnehin nicht üblich. Eine Nachfrage galt schon als renitente Haltung. Da fühlte man sich wie ein lästiger Bittsteller etwa in der psychischen Situation von Kafkas Landvermesser K. im „Schloss". Man lief gegen unsichtbare Wände und spürte seine Ohnmacht.

Schließlich tat ich einen ungewöhnlichen Schritt: Über den bei der CDU für Auslandsziehungen zuständigen Abteilungsleiter ließ ich bei den für Privatpersonen unerreichbaren Behörden einmal anfragen, ob irgendein Verdacht gegen mich vorläge, der die permanente Ablehnung meines Begehrens erkläre. Ein paar Tage später erfuhr ich unter vier Augen, das einzige Problem seien die Finanzen. Schließlich lägen international die Hotelkosten enorm hoch. Da ich wusste, dass Peter Schreier in Salzburg jedes Jahr ein geräumiges Landhaus für sich und sein Gefolge mietete, behauptete ich kühn, die Aufenthaltskosten sollten doch nicht das Problem sein, dafür würde mein Buchpartner gern aufkommen. Mein Pokern zeigte Erfolg, der Gewährsmann sagte das weiter und einige Tage später durfte ich im Außenministerium mein Visum abholen.

Nun befand ich mich in der kuriosen Situation, Kammersänger Peter Schreier davon zu informieren, dass ich mich quasi ohne vorherige Absprache bei ihm einquartiert hätte. Hier im Lande wäre eine solche Verständigung darüber ein Leichtes gewesen. Aber der Künstler weilte bereits zu Proben in Salzburg, jedes Telefongespräch über die Landesgrenze hinweg wurde natürlich abgehört. Meine Aufgabe bestand also darin, den Tatbestand fernmündlich so unauffällig wie möglich darzulegen, ohne beim amtlichen Lauscher Misstrauen zu erregen. Das gelang mir offenbar. Peter Schreier war ja ein versierter DDR-Bürger, er verstand sofort und sagte nur generös: „Sie sind mein Gast, ich erwarte Sie."

Auf diese Weise also überwand ich zum ersten Mal die unsägliche Grenze, genoss den Zauber der Festspielstadt an der Salzach, trank mich voll mit Musik, erlebte staunend, wie hier Künstler von ihren Managern und Plattenfirmen phantasievoll vermarktet wurden. Als ich bei der Rückfahrt in München ein paar Stunden Aufenthalt hatte, bestand meine ganze Barschaft aus einem einzigen Fünfmarkstück. Das reichte damals gerade für einen kräftigen Schluck im Biergarten plus Trinkgeld. Den Hunger stillte ich mit den Resten meines Reiseproviants. Ich hatte nämlich auf Anraten eines in dergleichen Abenteuern schon erfahrenen Kollegen eine Salami im Gepäck. Den letzten Zipfel davon und eine Scheibe trockenes Brot dazu verzehrte ich im Angesicht der Frauenkirche. Die Szene muss filmreif gewesen sein:

Leidlich seriös wirkender, gut gekleideter Mann mittleren Alters, auf den Stufen vor der berühmten Kathedrale hockend, aus einer Reisetasche Brot und ein Stück Dauerwurst klaubend, dazu ein paar Spaziergänge1 die das mit Staunen oder Neugier betrachteten und sich vielleicht wunderten, dass er nicht einen Hut oder einen offenen Geigenkasten für eine kleine Spende installiert hatte.

Übrigens raunte mir ein in DDR-Bräuchen Erfahrener zu, dass ich nach gehorsamer Rückkehr zum Reisekader gehören würde, wie man das militärisch-markig nannte. Er hatte Recht, ich probierte das später einmal aus und reiste ein zweites Mal zu den Salzburger Festspielen. Die Tagegelder, die man mir bewilligte, mussten da auch noch fürs Übernachten reichen. Aber ich hatte mir rechtzeitig eine gute Adresse gesichert: ein katholisches Studentenheim, das im Sommer leer stand und wo man zu einem traumhaft niedrigen Preis schlafen und frühstücken konnte. Als ich vor dem Landestheater einen prominenten Dresdener Schauspieler traf, der im Salzburger „Jedermann" mitwirkte und den ich seit einem Interview gut kannte, da hatten wir doch tatsächlich nichts Wichtigeres zu erörtern als unsere Tricks, mit wenig Geld gut über die Runden zu kommen. Und als wir uns dessen bewusst wurden, brachen wir schließlich in dröhnendes Lachen aus, und das Publikum der Galapremiere blickte leicht irritiert auf die beiden Kerle, einen prominenten Künstler und einen unbekannten Journalisten, die sich auf dem Makartplatz wie übermütige Kinder aufführten.

Mit dem Begriff Reisekader verbindet sich für mich noch eine für die Situation der DDR-Künstler charakteristische Erinnerung. Theo Adam hatte mich bei einer Begegnung auf einen jungen, hoffnungsvollen Sänger aufmerksam gemacht, von dem man sicher noch viel hören würde. Das war natürlich ein willkommener Tipp für einen Feuilletonredakteur. Ich wusste schon einiges über den jungen Mann, nur den Namen hatte ich mir nicht notiert. Also fragte ich bei einem mir bekannten Kulturbeauftragten nach und wurde auch gleich fündig. Natürlich kannte er den, natürlich sei der hochbegabt und könnte eigentlich jetzt schon zur Weltspitze gehören. Und wo denn das Problem läge, fragte ich. „Er ist kein Reisekader." Ich glaubte, nicht richtig zu hören. War so ein Unsinn denkbar? Warum man ihn denn nicht zum Reisekader ernenne? „Er ist nicht verheiratet." Das Argument kannte ich, man brauchte immer so eine Art Geisel daheim. „Dann verschafft ihm doch eine Frau", sagte ich belustigt. Die Antwort lasse ich hier weg, und den Namen verschweige ich auch. Nur so viel: Der Künstler hat auch ungeachtet solcher DDR-Machenschaften und bürokratischen Hemmnisse seinen Weg gemacht und zählte international sehr rasch zur Elite in seinem Fach. Theo Adam hatte eben ein Gespür für Talente.

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entnommen aus dem Buch Meier: Ein Leben in Deutschland, Edition Steinbauer GmbH, Wien 2006

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