Stille Winterstraße
Joachim Ringelnatz
Meisterhaft unterläuft Joachim Ringelnatz mit dem Element des Komischen gewohnte Erwartungen in der Lyrik. Auch der Text „Stille Winterstraße", der 1929 in seinem Gedichtband „Flugzeuggedanken" erschien, ist ein gutes Beispiel dafür. Was hier zunächst als besinnliches Idyll beginnt, wird schon in der dritten Zeile mit der kuriosen, ja banalen Erwähnung eines Holzzauns, der in die Landschaft ragt, gebrochen. Der heiter-überraschende Schlusseffekt kommt durch den angenommenen Perspektivwechsel von Mensch zu Reh zustande.
Ulrike Unger
Winterstraße von George Bellows (1882-1925)
Stille Winterstraße
Es heben sich vernebelt braun
Die Berge aus dem klaren Weiß,
Und aus dem Weiß ragt braun ein Zaun,
Steht eine Stange wie ein Steiß.
Ein Rabe fliegt, so schwarz und scharf,
Wie ihn kein Maler malen darf,
Wenn er's nicht etwa kann.
Ich stapfe einsam durch den Schnee.
Vielleicht steht links im Busch ein Reh
Und denkt: Dort geht ein Mann.
Textquelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Bd. 1. Gedichte. Zürich: Diogenes 1994. S. 414.
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Vorschaubild:
Winter Urheber: Forestphotograph via Wikimedia Commons, gemeinfrei
Winterstraße von George Bellows (1882-1925), gemeinfrei
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