Der deutsche Schriftsteller Detlev von Liliencron betrachtet in dem vorliegenden Gedicht nicht nur den Monat Juni und dessen wunderschöne sommerliche Tage, sondern geht kritisch mit der Welt ins Gericht. Egal, wie die Umstände auch sind, die Nachtigall singt immer ihr Lied. Das mag bei dem letzten Kuss des Abends und den geflüsterten Liebesworten in der ersten Strophe noch passend sein. Die Stimmung ist mit den lauschenden Gärten eine romantische. Auch in der zweiten Strophe wirken die von Liliencron gemalten Sprachbilder noch nicht bedrohlich oder kontrovers. Der „sonnengrüne Rosengarten“ und der „sonnenstille Morgenfriede“ klingen anheimelnd, einladend und idyllisch. Doch spätestens in der dritten Strophe beginnt, der immer wiederkehrende Vers „Flussüberwärts singt die Nachtigall“ einen herben Beigeschmack anzunehmen. Er stellt den „reichen Mann“ dem „Bettelkind“ gegenüber, ebenso wie die „Myrtenkränze“ den „Leichenzügen“. Ob der Autor hier Bezug auf einen Krieg nimmt, aus dem viele Beteiligte nicht lebend in die Heimat zurückkehren konnten, ist mir nicht bekannt, aber durchaus nicht abwegig. Die Vermutung wird in der vierten Strophe nochmals erhärtet mit dem Vers „und zum Kinde wird der Held“. Die „harte Welt“ wird milde und „das Herz macht seinen Frieden“ in der abendlich friedlich wirkenden Stimmung. Die Abendruhe lässt die Sorgen des Tages vergessen und umfängt das menschliche Herz und die Seele.
Carolin Eberhardt
Mitternacht, die Gärten lauschen,
Flüsterwort und Liebeskuss,
Bis der letzte Klang verklungen,
Weil nun alles schlafen muss -
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.
Sonnengrüner Rosengarten,
Sonnenweiße Stromesflut,
Sonnenstiller Morgenfriede,
Der auf Baum und Beeten ruht -
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.
Straßentreiben, fern, verworren,
Reicher Mann und Bettelkind,
Myrtenkränze, Leichenzüge,
Tausendfältig Leben rinnt -
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.
Langsam graut der Abend nieder,
Milde wird die harte Welt,
Und das Herz macht seinen Frieden,
Und zum Kinde wird der Held -
Flussüberwärts singt eine Nachtigall.
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