Ein grauer, trüber Morgen
Johann Wolfgang von Goethe
Dieses, wie es heißt, schon im Herbst 1770 verfasste Gedicht klingt wie ein vorweggenommenes Schlusslied der Sesenheimer Lyrik. Goethe hat sich im Sommer 1771 von Friederike Brion getrennt (siehe
Willkommen und Abschied). Er sah keine gemeinsame Zukunft. Jetzt ist er mit neuen Lebensumständen befasst „und herbste(t) Trauben ein". Doch hat er Friederike nicht vergessen. Er wünscht sie sich herbei, möchte ihr eine von seinen Trauben schenken, doch stellt er die Frage, was er von ihr dafür bekommen würde. Die liebe und nette „Friederike", so empfindet er wohl, ist seinem Genie nicht gewachsen.
Florian Russi
Ein grauer, trüber Morgen
Bedeckt mein liebes Feld;
Im Nebel tief verborgen
Liegt um mich her die Welt.
0 liebliche Friedrike,
Dürft‘ ich nach dir zurück!
In einem deiner Blicke
Liegt Sonnenschein und Glück.
Der Baum, in dessen Rinde
Mein Nam‘ bei deinem steht,
Wird bleich vom rauhen Winde,
Der jede Lust verweht.
Der Wiesen grüner Schimmer
Wird trüb wie mein Gesicht:
Sie sehn die Sonne nimmer
Und ich Friedriken nicht.
Bald geh‘ ich in die Reben
Und herbste Trauben ein;
Umher ist alles Leben,
Es strudelt neuer Wein.
Doch in der öden Laube,
Ach, denk‘ ich, wär‘ sie hier!
Ich brächt‘ ihr diese Traube,
Und sie, - was gäb‘ sie mir?
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Teaserfoto: pixabay, Urheber des Bildes: matak (gemeinfrei)
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