„Ganymed" zählt zu den bekanntesten Sturm- und Drang-Gedichten Goethes. Der Dichter schrieb es 1774 als 25-jähriger, zwei Jahre vor seinem Umzug von Frankfurt nach Weimar. Es ist in freier Form ohne Reime verfasst. Nicht die Metrik bestimmte das Gedicht, sondern der Gefühlsüberschwang eines jungen Poeten und „Genies". Ganymed war der griechischen Sage nach ein trojanischer Königssohn, der so schön war, dass selbst der Göttervater Zeus sich in ihn verliebte. So sehr verzehrte er sich nach dem Jüngling, dass er sich in einen großen Adler verwandelte, den Schönling sich krallte und auf den Olymp entführte. Für Goethe war die Ganymed-Sage Anlass, der Sehnsucht nach Liebe und Schönheit ungezügelt Ausdruck zu verleihen. Sie ist stärker selbst als die Gottheit und wenn Gott und Mensch sich in Liebe umfangen, ist die höchste Stufe des Ich-, Du- und Wir-Erlebnisses erreicht.
Peer Lechner
Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
Daß ich dich fassen möcht'
In diesen Arm!
Ach! an deinem Busen
Lieg' ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.
Ich komm', ich komme!
Wohin? Ach, wohin?
Hinauf! Hinauf strebt's.
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen,
Alliebender Vater!
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Bildnachweise:
Oben links: Büste des Ganymed (Ausschnitt) im Louvre (Paris).
Mitte rechts: Ganymed-Gemälde von Peter Paul Rubens, Museo del Prado, Madrid