Wäre in dem vorliegenden Gedicht nicht die Rede von Ästen, Stamm und Äpfeln, so könnte es sich bei dieser Erzählung in Versform ebenso gut um die Lebensgeschichte eines Menschen handeln. Vielleicht ist auch dies die Intention hinter dem Gedicht gewesen, die den Autor Horst Fischer dazu bewegte, dem Apfelbaum ein menschliches Empfinden und eine Person einzuhauchen.
Ebenso wie dem Baum geht es wohl auch manch Menschen in der heutigen Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten doch sehr verändert hat. Neue Techniken, neue Ansichten und neue Lebensmodelle – das alles ist für den einstigen Jüngling vielleicht nicht so einfach zu verdauen. Wie der junge Apfelbaum auf der Plantage, welcher im „Lauf der Zeit“ miterlebt, wie andere seiner Art gefällt wurden, um Platz für Neubauten zu schaffen, fühlt er sich durch die rasant fortschreitenden Veränderungen in der Welt abgehangen bzw. hintenangestellt. Doch andererseits erfährt er vielfache Wertschätzung für seine Anwesenheit, sein Werk und sein Wirken und ist mit Stolz erfüllt, dass er eine wichtige Aufgabe hat und sein Können einbringen kann. Bis zu dem Zeitpunkt an dem er selbst erkennt, dass seine Lebenszeit sich dem Ende entgegen neigt und er, erfüllt von schönen Lebenserinnerungen, „endlich ruh’n“ kann.
Aber nein, es geht natürlich in dem Gedicht um einen Apfelbaum. Vorangestellte Gedanken sind nur eine persönliche Interpretation. Doch ob Baum, Tier, Mensch oder Blume: Wir alle unterliegen doch dem ewigen Kreislauf des Lebens.
Carolin Eberhardt
Er stand als Jüngling stolz und fest in einer Apfelbaumplantage.
Er war, wie sich’s so sagen lässt, der Prachtkerl stets, mit viel Courage.
Er blühte festlich, trug an Früchten die saftigsten, die es wohl gab.
Er raunte herrliche Geschichten dem, der in seinem Schatten lag.
Dann kam der Lauf der Zeit dorthin. Die Menschen wollten schöner leben
und so kam‘s ihnen in den Sinn, Häuser zu bauen, dort g’rad eben.
D’rum mussten viele Bäume weichen, doch unser Prachtkerl, der blieb stehn,
denn er stand nicht wie seinesgleichen dem Bau im Wege, ach, wie schön.
Er war von allen, die ihn hatten, als Gartenprachtstück integriert,
gab Blüten, Früchte und auch Schatten, hat dafür Dankbarkeit verspürt.
Und so verströmt er über Zeiten die Kraft bis auf das letzte Gramm.
Nach vielen Jahren stillem Leiden blieb nur zum Schluss der hohle Stamm.
„Es ist genug, jetzt will ich enden“, denkt er, „und als den letzten Gruß
will ich noch einmal Früchte senden für’s allerletzte Apfelmus.“
Danach geschieht’s in einer Nacht, dass ihn die Kräfte ganz verlassen.
Als früh am Morgen man erwacht, liegt er glatt hingestreckt im Rasen.
Der hohle Stamm wird bald zersägt. Noch einmal blickt der Baum zurück.
Jetzt wird er zum Kamin gelegt. Die Flamme leckt am ersten Stück
und als die Lebensgeister nun behutsam in die Lüfte schweben,
weiß er, er kann nun endlich ruh’n und denkt: „Wie schön war doch mein Leben!“
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