Wenige unter den uns bekannten Menschen haben ihre Grenzen so ausgetestet wie das Dichter-Genie Goethe. Dabei wurde ihm deutlich, wie eng und beschränkt bei aller Kreativität und allem Sturm und Drang das menschliche Leben ist. In kindlicher Ehrfurcht beugt sich der Mensch vor dem Großen, Heiligen, Uralten, und es bleibt ihm nur, dessen Saum zu küssen. So ist und bleibt es, so hat es das Schicksal bestimmt, jetzt und in unendlicher Kette.
Florian Russi
Wenn der uralte,
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Über die Erde sät
Küss ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust.
Denn mit Göttern
Soll sich nicht messen
Irgend ein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.
Steht er mit festen,
Markigen Knochen
Auf der wohlgegründeten
Dauernden Erde,
Reicht er nicht auf,
Nur mit der Eiche
Oder der Rebe
Sich zu vergleichen.
Was underscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sie dauernd,
An ihres Daseins
Unendliche Kette.
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Gedicht entnommen aus: Lukas, Moritz (Hrsg.): Die schönsten deutschen Gedichte, Köln: Anaconda Verlag, 2014, S.196.