In realistischer und den Leser zum Mitfühlen anregender Weise beschreibt Löns in seinem Gedicht, wie sich ein schlechtes Gewissen mental, und in der Folge auch körperlich, anfühlen kann. Der Betroffene hat das Gefühl, als wäre ihm seine Missetat auf die Stirn geschrieben, als würden alle Menschen in seinem Gesicht sehen können, was er verbrochen hat. Der Brunnen stellt in diesem Zusammenhang einen Vertrauten dar, der das Geheimnis in den kühlen Fluten bewahrt und nicht wieder preisgibt. In den Tiefen des Brunnens ist die Tat auf immer verborgen und kann nicht wieder an das Tageslicht. Sinnbildlich steht der Brunnen somit für das Unterbewusstsein, in welches der Mensch die Erlebnisse verdrängt, mit denen seine Psyche und sein Verstand nicht bereit sind, sich auseinanderzusetzen.
Carolin Eberhardt
Was sehen denn die Leute
Mich bloß so eigen an?
Als wüßten sie es alle,
Was keiner wissen kann.
Ich glaube gar, sie lesens
Mir ab von dem Gesicht,
Als ob sie's alle wissen,
Und das dürfen sie doch nicht.
Das Wasser in dem Brunnen,
Das sagt es mir sogleich;
Meine Augen die sind trübe,
Meine Wangen die sind bleich.
Das Wasser in dem Brunnen,
Verschweigt wohl, was es weiß;
So kühl ist ja das Wasser,
Die Reue, die ist heiß.
Die Reue, ja die Reue,
Die brennet gar zu sehr;
Das tiefe tiefe Wasser
Das gibt nichts wieder her.
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Vorschaubild: Adolph Tidemand - Well at Goldsheim - NG.M.00302-049 - National Museum of Art, Architecture and Design, 1838 via Wikimedia Commons Gemeinfrei.