Ein hungriger Geier streifte umher, da fiel ihm eine Nachtigall in seine Klauen. "Bitte, verschone mich!", flehte die Nachtigall ihn an. "Ich bin doch nur ein kleiner Happen für dich uund habe außer meiner Stimme nichts zu bieten. Anstatt mich zu fressen, vernimm lieber meinen Gesang. Vom wilden Terens und seiner Lust kann ich dir Kund tun."
"Wer ist Terens?", fragte nun der Geier. "Ist das jemand, den ich fressen könnte?"
"Aber nein", antwortete die Nachtigall. "Er war ein Fürst voller Liebesglut, der scheußliche Schandtaten begangen hat. Von ihm kann ich dir ein Lied singen, das dich in Entzücken versetzen wird."
Da lachte der Geier höhnisch und sagte: "Hungrig bin ich, und da willst du mir Musik machen?"
"Von Königen will ich dir singen", erwiderte die Nachtigall.
"Sollte ein König dich einmal fangen, so singe ihm deine Wundersagen vor", erklärte nun der Geier. "Mit mir aber hast du mit jemand zu tun, der nicht Lieder hören, sondern seinen leeren Magen füllen will."
Fazit: Da nutzen die besten Argumente nicht, wenn sie nicht zur Situation (Lage) passen.
oder: Gegen rohe Gewalt haben schöne Reden und Gesänge kaum eine Chance.
nacherzählt von Florian Russi
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