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Berndt Seite

Augentrost

In den vielen Werkstätten des Anthropozän zieht Berndt Seite an den Fäden des Moments und befragt mit ihnen den längst abhanden geratenen Sinn des Lebens.

Die Schildbürger

Die Schildbürger

Florian Russi

Wir kennen die Geschichte von den Männern aus Schilda, auch Schildbürger genannt. Sie waren klug und weise und in der ganzen Welt als Berater gefragt. Sie wirkten an Königshöfen, als Sachverständige von Regierungen, Verbänden, Parteien und Organisationen. Alle profitierten von ihrer Weisheit. Dank ihres Einsatzes wurden viele Fehler und Unsinnigkeiten vermieden.

Eines Tages aber wurde es den Frauen der Schildbürger zu viel. Sie wollten nicht ständig auf ihre Männer, die oft monatelang in der weiten Welt unterwegs waren, verzichten. „Wir fordern unsere Männer zurück“, erklärten sie deshalb und setzten diese mit vielen Raffinessen unter Druck. Die gaben schließlich nach, und um nicht weiter ins Ausland gelockt zu werden, beschlossen alle Schildbürger feierlich, in Zukunft auf jede Weisheit zu verzichten.

Das gelang ihnen hervorragend. Es führte u. a. dazu, dass sie sich ein neues Rathaus bauten, dabei vergaßen, Fenster einzubauen und das fehlende Licht dadurch ersetzen wollten, dass sie in Bottichen, Schüsseln und Säcken Sonnenlicht einzufangen versuchten.

Hauptsache war es jedoch, dass die Frauen ihre Männer wieder hatten. Mit ihren ständigen Torheiten kamen sie zwar kaum zurecht, fühlten sich aber durchaus wohl dabei. Was niemand jedoch so recht bedacht hatte, war, dass nun nicht nur in Schilda, sondern in der ganzen Welt die weisen Ratschläge der Schildbürger fehlten. Überall häuften sich die Torheiten. Als in der Hauptstadt eines Landes im Regierungspalais das Licht ausging, preschte der führende Minister mit dem Vorschlag vor, vor die Tür zu gehen und mit Eimern und Tüten das Sonnenlicht einzufangen.

Fazit: Der Verzicht auf Weisheit schadet nicht nur dem Weisen.

Oder: Wenn die wenigen Weisen sich zurückziehen, nimmt die gewöhnliche Dummheit ihren freien Lauf.

 

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Vorschaubild: Titelblatt einer späteren Ausgabe des Lalebuches, 1596, Urheber: unbekannt via Wikimedia Commons PD-alt-100; bearbeitet von Carolin Eberhardt.

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