Sechs Studierende lebten in einer Wohngemeinschaft zusammen. Sie nutzten eine gemeinsame Küche und entsorgten ihren Abfall in einer Mülltonne. Eines Tages sagte der Mathematik- zum Jurastudenten: „Kannst du mal für mich die Mülltonne vor die Tür bringen? Ich bin gerade sehr gestresst, weil ich übermorgen eine mündliche Prüfung vor mir habe.“
„Bei allem Verständnis finde ich das nicht gerecht“, antwortete der Jura-Student. „Wir haben uns geeinigt, dass jeder von uns wechselseitig den Müll entsorgen soll. In dieser Woche bist du an der Reihe. Sicher weißt du schon länger, dass deine Prüfung bevorsteht. Du musst dir deine Zeit einteilen und deine Arbeit nicht von anderen machen lassen.“
Wenig später betrat der Philosophiestudent den Raum und der Mathematiker bat auch ihn darum, die Tonne vors Haus zu bringen.
„So einfach geht das nicht“, antwortete der Philosoph. „Erst einmal müssen wir den Begriff „Müll“ klären. Was ist Müll? Was ist seine Existenz und was seine Essenz? Warum entsteht er überhaupt? Wir Menschen sind es, die ihn verursachen bzw. als Müll bezeichnen. All seine Teile gehörten vorher zu Essenzen, die wir nie als Müll bezeichnen würden. Bevor wir diese Fragen nicht geklärt haben, weigere ich mich, deinem Ansinnen zu folgen.“
„Wenn das so ist, dann ist auch die Tonne keine Tonne“, antwortete der Mathematiker. „Mathematisch gesehen ist eine Tonne 1000 Kilogramm. So schwer war unser Abfalleimer, den wir Tonne nennen, noch nie.“
Als wenig später der Biologiestudent die Wohnung betrat, teilte der Mathematiker auch ihm sein Problem mit.
„Als Biologe muss ich darauf bestehen, dass wir künftig unseren Müll strikt trennen“, sagte der. „Wir brauchen dazu drei Behälter, einen für Plastik und Verpackungsmaterial und einen für die pflanzlichen Abfälle. Die Essensreste gehören in einen dritten Behälter. Sie enthalten viel Eiweiß. Wenn du also das Müllproblem lösen willst, kümmere dich mal darum.“
Der hinzukommende Theologiestudent konnte zwar einen Lösungsweg aufzeigen – „Einer trage des anderen Last“ – sah aber keinen Anlass, zu der Lösung selbst beizutragen. „Viele sind berufen, aber nur wenige auserwählt.“
Am Abend saßen die 5 Bewohner beisammen und der Philosoph stellte fest, dass die Tonne immer noch nicht entsorgt war. Da sagte er zum Mathematiker: „Kannst du sie nicht wenigstens mal bis ins Treppenhaus bringen? Der Weg ist schon das Ziel.“
„Nichts werde ich tun“, antwortete der. „Das Müllproblem ist für mich zu einer Grundsatzfrage geworden.“
„Recht hast du“, wandte der Jurist ein. „Es gilt das Verursacherprinzip. Wir müssen genau feststellen, wer von uns welche Anteil zu dem Müll beiträgt. Danach müssen wir bestimmen, wer von uns wie oft die Tonne nach unten tragen muss.“
Der Schauspielschüler, der erstmals an dem Gespräch teilnahm, hatte eine Idee. „Ich und einige Kolleginnen und Kollegen proben gerade ein Theaterstück ein, bei dem es auch um das Ausräumen einer Wohnung geht. Ich könnte mit ihnen sprechen, ob wir hier in der Wohnung eine Probeveranstaltung machen, und dabei auch die Tonne förmlich entsorgen könnten.“
„Wenn ihr sonst nichts mitgehen lasst, wäre ich durchaus einverstanden“, sagte der Mathematiker.
„Eines müsst ihr mir allerdings versprechen“, ergänzte der Schauspieler. „Ihr müsst alle als Zuschauer anwesend sein und gebührend Beifall klatschen. Das wird von meinen Kollegen erwartet.“
„So etwas fehlt mir noch“, mischte sich da der Theologe ein. „Wo bleibt mir die Demut. Sucht euch euer Publikum woanders.“
An diesem Abend konnten sich die Bewohner nicht einigen. Als sie zehn Tage später wieder zusammentrafen, stellten fünf von ihnen erstaunt fest, dass die Mülltonne nicht mehr in ihrer Ecke stand.
„Wie ist das denn möglich?“, fragte der Mathematiker erstaunt.
„Allein aus Gründen meiner Gesundheit habe ich sie aus der Wohnung entfernt“, antwortete der Biologe. „Es gab für mich nur noch eines: Entweder die oder ich.“
Fazit: Vielen Lösungen steht die Eitelkeit der Beteiligten entgegen.
Oder: Kein Problem, das sich nicht zerreden lässt.
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