Ein reicher Mann hatte einen Sohn, der sehr anmaßend und aufsässig war. Er warf sich vor, sich zu wenig um ihn gekümmert zu haben. Zum Ausgleich schickte er ihn, nachdem er volljährig geworden war, auf eine Bildungsreise durch Europa. Erstes Ziel sollte Rom sein. Der junge Mann saß in einem für ihn reservierten Zugabteil 2. Klasse und langweilte sich. Da stiegen zwei junge Damen hinzu und setzten sich ihm gegenüber. „Wohin wollt ihr Hübschen?“, sprach er sie an. Sie antworteten: „Wir wollen nach Rom. Dort studieren wir. Unsere Mütter sind Deutsche und unsere Väter Italiener. Da passt es, dass wir in beiden Kulturen unterwegs sind.“
„Ich bin auf Bildungsreise und mein Ziel ist auch Rom. Die Stadt hat ja einmal halb Europa beherrscht. Da kann es nicht schaden, sich selbst einmal umzusehen. Ich werde in einem Fünf-Sterne-Hotel in der Nähe des Vatikans wohnen. Eine Woche habe ich für Rom vorgesehen. Dann geht’s weiter mit dem Flieger nach Athen und von dort aus nach Istanbul, zu den Türken. Man muss alles mal gesehen haben. Später werde ich die Firma meines Vaters übernehmen. Der Laden läuft fast von alleine. Doch ich habe vor, ihn noch weiter auszubauen. Mich reizt das internationale Geschäft. Von unserem Knowhow können alle profitieren. Wir aber wollen gutes Geld verdienen und dann das Geld für uns arbeiten lassen. Geld regiert die Welt. Pech für den, der nicht genug davon hat. Für mich ist klar, ich will immer auf der Siegerseite sein.“ Dann fragte er die beiden Studentinnen, ob sie sich mehr als Deutsche oder mehr als Italienerinnen fühlten.
„Wir sind beides“, antworteten sie, woraufhin er anmerkte, dass Deutschland doch das überlegenere Land sei, außer vielleicht in der Mode oder manchmal auch im Fußball. Dann tönte er davon, dass die Deutschen doch fleißiger seien als die Italiener und bedeutendere Männer hervorgebracht hätten. „Vielleicht liegt es ja auch am Klima“, erklärte er. „Als es im vergangenen Sommer so richtig heiß war, habe ich auch lieber am See gelegen als meine Hausaufgaben zu machen.“ Der Sohn ereiferte sich immer mehr, die jungen Damen hörten zu und lächelten. Als sie sich Rom näherten, fragte er die beiden nach ihren Namen und schlug vor, sich einen Tag später zum Abendessen zu treffen.
„Ich heiße Festina Lente“, antwortete die eine, mein Name ist Lotta Continua“, die andere.
„Ich bin der Gerhard“, erklärte er, „und ihr findet es okay, wenn ich „Festina“ und „Lotta“ zu euch sage. Übrigens habe ich eine Kusine, die Lieselotte heißt und auch Lotta gerufen wird.“ Dann zückte er einen Notizblock und bat Festina, ihm ihre Adresse aufzuschreiben.
Als er abends im Hotel in seinem Bett lag, musste er ständig an seine beiden Reisebegleiterinnen denken und konnte lange nicht einschlafen. Festina war die Hübschere von den beiden und Lotta die Lebhaftere. Die hat ordentlich Temperament, dachte er, doch Festina ist auch nicht zu verachten. Zwei unterschiedliche Freundinnen zu haben, ist ja auch nicht schlecht. Er überlegte, seine Weiterreise eventuell verschieben zu müssen. Jetzt lag er alleine in seinem Bett. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er sich mit den beiden darin tummeln würde.
Am Abend danach fuhr Gerhard mit einem Taxi zu der Adresse, die Festina ihm aufgeschrieben hatte. Doch die Hausnummer stimmte nicht. Es handelte sich dabei um ein Büro, das längst geschlossen hatte. Irritiert lief Gerhard hin und her, schaute immer wieder auf seinen Zettel und wusste sich keinen Rat. Da kam aus einem Nachbargebäude ein Mann und fragte auf Deutsch: „Suchen Sie jemanden?“
„Ich bin verabredet mit zwei Studentinnen, die ich gestern im Zug kennengelernt habe.“
„Ich kenne die meisten Menschen, die hier wohnen, können Sie mir die Namen der Damen sagen?“, erwiderte der Mann.
„Festina Lente und Lotta Continua“, sagte Gerhard.
Da schüttelte der Mann den Kopf. „Die beiden haben sie reingelegt. Festina lente ist kein Name, sondern ein römischer Leitspruch und bedeutet „Eile mit Weile“. Lotta Continua nannte sich eine italienische Revolutionsbewegung ähnlich der RAF in Deutschland. Der Name bedeutet „Der Kampf geht weiter“. Das tut mir sehr leid für Sie, junger Mann. Als ich vor zwanzig Jahren für vier Semester nach Deutschland zum Studieren gegangen bin, hatte ich vorher schon vieles über das Land gelesen und mich mit seinen wichtigsten Dichtern und Philosophen vertraut gemacht. Ähnliches hätte ich Ihnen empfohlen, bevor Sie nach Italien aufgebrochen sind.“
Fazit: Reisen bildet zwar, aber nur den, der schon ein bisschen etwas weiß.
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