Es war vor langer Zeit, als die Menschen als Jäger und Sammler ihren Lebensunterhalt sicherten und in Sippen lebten und es noch keine Staaten gab. Das Leben war hart und voller Gefahren. Von überall her drohten Verletzungen und Krankheiten. Auch die Sippen und Familien gingen nicht immer freundlich miteinander um. Wichtig für ihr Überleben waren Erfahrung, Stärke und Verschlagenheit. So auch in der Sippe, von der hier die Rede sein soll.
Der Vater, an dem alle hingen, kam früh bei einem Jagdunfall ums Leben. Da sagte der älteste Sohn: „Nun muss ich die Führung der Sippe übernehmen.“ Da er der Älteste unter den Kindern war, erhoben sich dagegen keine Einwände.
Nachdem er jedoch die Führung in der Großfamilie übernommen hatte, begann der Älteste durchzudrehen. Er wollte über alles und jeden bestimmen, war launisch und selbstherrlich, und in seinen Entscheidungen willkürlich und verletzend. Die jüngeren Kinder litten sehr darunter. Zwei unter ihnen, die schon etwas kräftiger waren, übten sich im Steinwerfen. Eines Tages sagte der eine zum anderen: „Im Ringkampf ist uns der große Bruder zwar überlegen, mit einem gezielten Steinwurf aber könnten wir ihn jederzeit ausschalten. Lass es uns versuchen. Ich kann ihn nicht mehr ertragen. Er ist ein Schuft. Was ich dir vorschlage, ist reine Notwehr.“
Da erwiderte der andere: „Du hast Recht. Der Kerl ist unverschämt, brutal und seelisch gestört. Ich möchte ihn unbedingt loswerden. Doch er ist mein, das heißt unser Bruder, unser großer Bruder. Ich bringe es nicht über mich, meine Hand gegen ihn zu erheben.“
Also nahmen die Brüder Abstand davon, sich an dem Älteren zu vergreifen. Der herrschte weiter unbeschränkt über die Sippe. Doch eines Tages ereilte ihn ein ähnliches Schicksal wie den Vater. Ein Wildschwein, das er vergeblich mit einem Speer erlegen wollte, ging wütend auf ihn los und rempelte ihn zu Tode. Da sammelte seine Mutter ihre ganze Familie um sich und sagte: „Nun sind wir wieder ohne männlichen Schutz. Doch ich denke, zusammen sind wir gescheit genug, um gemeinsam über unser Leben zu bestimmen. Wir werden jeden Tag zusammen mehr Kräuter, Beeren, Gräser sammeln als wir verbrauchen und unseren Überschuss mit anderen Sippen tauschen, die auf der Jagd erfolgreicher sind als wir.“ Sie warf sich in die Brust und betonte: „Gemeinsam sind wir stark.“
So hielten sie es und waren erfolgreich. Aus ihrer Not heraus bildeten sie einen Vorläufer der Demokratie.
Fazit: Diktaturen stellen sich gerne als „großer Bruder“ dar. Mit Recht glauben sie, dass dies ihre Untertanen hemmt, sich gewaltsam gegen sie zur Wehr zu setzen.
Oder: „Demokratie bedeutet, dass ich über mich selbst mitbestimmen kann.“ (Erich Kästner)