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Jürgen Krätzer

Kennst du Gotthold Ephraim Lessing?

Jürgen Krätzer eröffnet uns eine neue Sicht auf den Autor. Er war eine faszinierende Persönlichkeit, ein kluger Kopf mit spitzer Zunge und sensiblem Herzen – ein „Freigeist“.

Weiterleben wie bisher

Weiterleben wie bisher

Florian Russi

Zu einer Zeit, als die Kinder noch streng erzogen wurden, lebten in Weyers zwei Freundinnen, Cora und Erna mit Namen. Die beiden waren fast immer beisammen. Sie waren Schülerinnen, aufmerksam, fleißig und gehorsam gegenüber ihren Eltern und Lehrern. Mit Männern hatten sie nichts im Sinn, jedenfalls nicht, bis sie achtzehn Jahre alt wurden. An ihrem achtzehnten Geburtstag sagte Cora zu Erna: »Heute Abend ist in Poppenhausen Tanzfest. Da möchte ich gerne hingehen.« Selbstverständlich war Erna sofort bereit, sie zu begleiten. Sie zogen also ihre besten Kleider an und machten sich auf den Weg zur Gaststätte »Drei Linden« in Poppenhausen. Dort nahmen sie an einem der vielen, noch freien Tische Platz. Ein Zwei-Mann-Orchester spielte Tango, Walzer und Charleston. An der Theke tuschelten ein paar junge Männer miteinander. Insgesamt schien die Einladung zum Tanz nicht viel Zuspruch gefunden zu haben. Cora und Erna waren sehr enttäuscht. Die Herren schauten verstohlen zu ihnen herüber, aber sie waren gehemmt oder nicht zum Tanzen aufgelegt. Schließlich, als die beiden Mädchen das Lokal schon wieder verlassen wollten, löste sich Eduard aus der Gruppe der Thekensteher und forderte erst Cora, dann Erna zum Tanz. Welch großartiger Tänzer dieser Eduard war und wie gut er führen konnte! Beim Charleston wirbelte er über den Tanzboden, dass selbst der Wirt Beifall klatschte und Getränke für ihn und die beiden jungen Damen spendierte. So wurde es doch noch ein vergnüglicher Abend.
Am folgenden Sonntag, als Cora und Erna miteinander spazieren gingen, wollte zunächst keine von ihnen etwas sagen. Dann jedoch fasste sich Erna ein Herz und offenbarte der Freundin: »Etwas Unglaubliches ist geschehen - ich habe mich verliebt!« Da hielt Cora nicht länger an sich und erwiderte: »Auch ich habe mich verliebt.« Beiden war sofort klar, dass es sich beim Auserwählten um denselben handelte: Eduard.
Die Freundschaft der beiden jungen Damen bestand diese Prüfung. Gemeinsam suchten sie nun herauszufinden, wo Eduard zu Hause war und wo er arbeitete. Jeden Tag tauschten sie sich aus über die zärtlichen Empfindungen, die sie für den jungen Mann verspürten. Dann war es soweit. Cora hatte herausgefunden, dass Eduard am Sperberweg wohnte, nicht verheiratet war und als Buchhalter in der Schreinerei Simon arbeitete.
In der Gewissheit, dass ihre Liebe tiefer war als die Ernas, machte Cora sich kurz darauf alleine auf, um Eduard zu begegnen, wenn er am späten Nachmittag die Schreinerei verließ. Sie lächelte ihn an. Er erkannte sie wieder, lud sie zu einer Tasse Schokolade ein und verabredete sich mit ihr für das kommende Wochenende. Betrübt musste Cora jedoch schon bald feststellen, dass auch Erna nicht untätig geblieben war und Eduard unter einem Vorwand in seiner Wohnung aufgesucht hatte. Die Freundschaft der jungen Damen litt, und Eduard konnte sich nicht zwischen den beiden entscheiden.
Eines Tages erfuhr Cora, dass Eduard gerne Schokoladenpudding aß, und als sie wenig später Erna mit einer Porzellanschüssel aus dem Dorf eilen sah, wurde ihr klar, dass der Kampf um Eduard begonnen hatte. Am Tag drauf schien die Sonne, und sie erwartete Eduard wieder am Werkstor. Sie nahm ihn bei der Hand, schmiegte sich eng an ihn und führte ihn zu einem Kornfeld. Dort gab sie sich ihm hin in ungespielter Leidenschaft.
Viele Wochen gingen ins Land, bis Coras gestrenge und immer besorgte Mutter feststellte, dass die Röcke ihrer Tochter vorn immer kürzer und hinten länger wurden. Sie schrie auf, bedeckte mit den Händen das Gesicht und getraute sich nicht, ihrem Mann von der unauslöschlichen Schande zu berichten, dass sein behütetes Kind außerhalb des Ehestandes schwanger geworden war, »Eduard ist ein Ehrenmann« entgegnete ihr Cora. »Er wird mich heiraten.«
Als Cora Eduard mitteilte, dass er nun bald Vater sein werde, nickte er wissend. Er dachte, diese Botschaft beziehe sich auf Erna. Die nämlich hatte ihm Tage zuvor gestanden, dass ihre tiefe Liebe zu ihm sich nun auch in einem gemeinsamen Kind offenbaren werde. Daraufhin hatte er ihr als Kavalier, der er nun einmal war, die Ehe versprochen. Cora weinte bitterlich und stritt mit ihm um ihren guten Ruf.
Eduard lud die beiden Frauen zu einem klärenden Gespräch. Er sei sich bewusst, sagte er, dass deren Kinder einen Vater und einen anständigen Namen brauchten. Da eine Ehe zu dritt nicht geduldet sei, werde er erst Erna heiraten und sich dann wieder von ihr scheiden lassen, um mit Cora eine zweite Ehe zu schließen. So könnten sie alle seinen Namen tragen, und man werde sich auf ein gemeinsames Leben verständigen. Er habe von Stammeshäuptlingen gelesen, die mit bis zu hundert Frauen und entsprechend vielen Kindern glücklich und zufrieden zusammengelebt hätten. So zogen Erna und Cora in Eduards Haus und brachten dort ihre Kinder zur Welt, Erna eine Tochter, Cora einen Sohn. Die Tochter wurde Rosemarie, der Sohn Roland genannt. Man arrangierte sich zu fünft. Eduard brauchte sich nicht über fehlende Zuwendung zu beklagen.
Nach einigen Monaten wurden jedoch die Haushaltsmittel knapp. Eduard verdiente nicht genug, um so viele Personen ernähren zu können. Frauenarbeit war noch nicht selbstverständlich, die Mitgifte aufgezehrt. Armut bedrohte die Lebensgemeinschaft. Eines Tages erzählte Erna von einem Onkel, der verstorben sei und ihr eine Leibrente vererbt habe. Von da an ging es allen wieder etwas besser, doch Cora war misstrauisch. Als Erna das gemeinsame Haus verließ, um auf der Bank ihre Rente abzuholen, schlich sie heimlich hinter ihr her. So konnte sie feststellen, dass Ernas angeblicher Onkel noch ganz lebendig war. Außerhalb der Geschäftszeiten wurde Erna vom Sparkassendirektor begrüßt und in einen Nebenraum geführt Cora war inzwischen erfahren genug, um sich und Erna keine weiteren Fragen zu stellen.
Wenig später wurde Cora von einer seltenen Krankheit befallen. Das Leiden war nicht bedenklich, machte es jedoch erforderlich, dass sie sich vom Apotheker spezielle Rezepturen bereiten ließ, die aus frisch geernteten Kräutern hergestellt werden mussten. Bald konnte nun auch Cora einiges zum Wohlstand der Hausgemeinschaft beitragen. Ihr Vater habe den Wunsch geäußert, sie zu unterstützen, erzählte sie Eduard. Der empfand es als angenehm, dass Cora nun häufig am ganzen Körper nach frischen Kräutern und wohlriechenden Tinkturen duftete.
Eduard genoss den unverhofften Wohlstand und war sich sicher, dass er zum Glückskind geboren war. Deshalb fand er es an der Zeit, sich eine Geliebte zuzulegen. Johanna hieß die Auserwählte, doch deren Glück dauerte nicht lange. Cora kam als erste hinter die Treulosigkeit ihres Gatten. Nach langer Zeit verbündete sie sich wieder mit Erna. Gemeinsam fielen sie über Johanna her und zerkratzten ihr das Gesicht. Für Eduard war die Geliebte nun zu hässlich geworden. Er begann, nach einer anderen zu suchen und begegnete dabei Martha. Diesmal stellte er Cora und Erna vor die Wahl, entweder die neue Geliebte zu tolerieren oder das gemeinsame Haus zu verlassen. Cora entschied sich zu bleiben, Erna, ein neues Glück zu suchen.
Ernas Wegzug hatte noch einen weiteren Grund, ihre Tochter Rosemarie war inzwischen sechzehn Jahre alt geworden und hatte sich mit Roland, ihrem Halbbruder nie verstanden. Schon als kleine Kinder hatten sie sich unentwegt gezankt. Mit zunehmendem Alter waren die Böswilligkeiten zwischen den beiden immer raffinierter und auch gefährlicher geworden. Erna bangte um die Gesundheit ihrer Tochter. Schon immer hatte Roland versucht, Rosemaries Taschengeld zu stehlen. Wenn einer von den beiden etwas vermisste oder nicht an der gewohnten Steile vorfand, verdächtigte er sofort den anderen, es an sich genommen zu haben. Dann beschimpften sie sich gegenseitig. Sie schlugen sich auch, und jeder von beiden versuchte, den anderen mit allerlei Gemeinheiten zu ärgern. So versteckte Roland Rosemaries Haarbürste, beschmutzte das Kleid, das sie zum Ausgehen anziehen wollte, oder legte ihr eine halbtote Ratte ins Bett. Rosemarie rächte sich, indem sie die Geldkassette, in der sie ihr Taschengeld aufbewahrte, mit ätzenden Chemikalien bestrich. Während er schlief, färbte sie seine Haare mit grellen Farben, und einmal tauchte sie nachts die Hand des Schlafenden in lauwarmes Wasser, so dass Roland wohlig träumend ins Bett pinkelte. Danach fürchtete sie um ihr Leben. Kurze Zeit später schlug sie wieder nach ihm und goss ihm heißen Kaffee über den Hosenladen. Da sprang er blitzschnell aus seiner Hose, ergriff Rosmarie, schüttelte sie und riss ihr die Kleider vom Leib. Unter lautem Geschrei machten die beiden Hass-Liebe. Nach einigen Tagen keifte sie ihn an: »Wage es nie wieder, in meine Nähe zu kommen!« Da streckte er ihr die Zunge heraus. Sie fielen wieder übereinander her, beschimpften sich und paarten sich in ungewöhnlichen Stellungen.
Nach Ernas und Rosemaries Wegzug wurde Eduard bald auch Coras überdrüssig. Er ließ sich von ihr scheiden und heiratete Martha. Cora hielt die Stellung, blieb im gemeinsamen Haus wohnen und nahm sich einen neuen Lebensgefährten. Bald musste man anbauen, denn auch Erna kehrte wieder zurück. Sie hatte Klaudi geheiratet, war aber mit ihm nicht glücklich geworden. Ihr neuer Freund Stephan arbeitet auf Montage und war nur selten im Lande.
Martha, Eduards Neue, war hübsch, aber unvermögend. So war man froh über Ernas Rente und Coras väterlichen Gönner. Außerdem konnte Eduard feststellen, dass junge Liebe und alte Gewohnheiten sich durchaus vereinbaren ließen. Schwierig wurde es erst, als der Apotheker plötzlich starb, Coras Vater zur gleichen Zeit seine Wohltaten einstellte und sich dann auch noch zeigte, dass Ernas verstorbener Onkel bei der Rentenplanung für seine geliebte Nichte offenbar nicht davon ausgegangen war, dass sie ein Alter von mehr als achtunddreißig Jahren erreichen würde. Dazu kam noch, dass Erna ihren jüngeren Bruder Siggi unterstützen musste, der ein fröhlicher Familienmensch, im beruflichen Leben aber ein Versager war. Da traf es sich prächtig, dass Rosemarie eines Tages auf eine Geburtstagsfeier eingeladen wurde, an der auch der reiche Witwer Warnfried teilnahm. Warnfried war bereits jenseits des Alters, in dem man sich noch für junge Damen interessieren sollte. Doch die kessen Sprüche, die Rosemarie über die Lippen kamen, begeisterten den alten Herrn so sehr, dass er ihr den Hof machte. Noch in derselben Nacht verführte sie ihn. Zwei Tage später waren sie verlobt, nach drei Monaten heirateten sie.
Zuvor wollte Warnfried noch Rosemaries Eltern kennen lernen. Er lud Erna und Eduard zum Tee ein. Die beiden hielten sich an den Händen und sagten: »Leider ist unsere Ehe ohne unser Verschulden auseinander gegangen, aber wir sind Freunde geblieben und feiern noch viele Feste miteinander und mit der ganzen Familie.« Sie erzählten von Aufrichtigkeit, Wärme, Treue und Zuverlässigkeit. Warnfried war gerührt und lud die gesamte Verwandtschaft zu seiner Hochzeit mit Rosemarie ein.
Es kamen alle, Eduard, Martha, Erna, Cora, die neuen Männer und ebenso die dazugehörigen Großeltern, Onkels, Tanten, Neffen und Nichten. Nur Thea, eine Kusine Ernas, hatten sie nicht eingeladen. Ihr gefürchtetes Mundwerk hätte die Harmonie des Festes in Gefahr bringen können. Roland erschien im dunklen Anzug. Ab und an warf er Rosemarie feindselige Blicke zu. Erna aber nahm ihre Tochter beiseite und sagte: »Mit der ehelichen Treue, das wirst du doch wohl durchhalten können. Warnfried hat vielleicht noch ein paar Jahre vor sich. Dann erbst du sein Geld - und wir können ohne Sorgen weiterleben wie bisher«

*****
Text: entnommen aus dem Buch "Der Drachenprinz" von Florian Russi; ISBN: 3-937601-08-2; Bertuch Verlag GmbH Weimar; 2004
Teaserfoto: Pixabay - Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig; Urheber:
geralt

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