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Unser Leseangebot

Im Zeichen der Trauer

Florian Russi (Hrsg.)

Tröstungen für Hinterbliebene

Feinfühlig und doch nüchtern und realitätsnah dargestellt, sollen die Texte Tränen trocknen und Mut zusprechen

Elisabeth Müller

Friedrich Ekkehard Vollbach

Eine Pfarrerstochter gegen das NS-Regime

 

„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden."

Matthäus 5, 10

D. Bonhoeffer, P. Schneider, H. Grüber oder M. Niemöller sind Männer des Kirchenkampfes, deren Lebensweg bekannt ist. Schon viel ist über diese Widerstandskämpfer der evangelischen Kirche geschrieben worden.
Weithin unbekannt aber ist das Schicksal der Pfarrerstochter und Lehrerin Elisabeth Müller, die aus ihrer Ablehnung des NS - Regimes keinen Hehl machte.

Zwei Ereignisse im Jahr 1875 - dem Geburtsjahr von Elisabeth Müller - prägten das künftige Leben in Deutschland besonders, nämlich die Verabschiedung des sog. Reichspersonenstandsgesetzes, durch das die obligatorische Zivilehe eingeführt und die Registrierung von Eheschließungen, Geburten und Todesfällen bei den Standesämtern vorgeschrieben wurde, und die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Verlauf des Gothaer Kongresses.

Elisabeth Müller wurde am 15. März in diesem Jahr in Winningen an der Mosel geboren, einem Winzerdorf der Verbandsgemeinde Untermosel, wenige Kilometer vom Deutschen Eck entfernt.
(sieben Jahre zuvor erblickte auch Autokonstrukteur August Horch in diesem Ort das Licht der Welt)
Elisabeths Vater, Adolph Müller, war von 1873 bis 1912 Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde in Winningen. Der Ort war seit Einführung der Reformation im Jahre 1557 eine evangelische Enklave im katholischen Umland und das evangelische Kerndorf der evangelischen Kirchgemeinden, zu denen 9 weitere Dörfer der Untermosel gehören.

Winningen an der Mosel
Winningen an der Mosel
Die Kirchgemeinde galt als lutherische Vorzeigegemeinde, deren Pfarrstelle „mit ausgezeichnet gebildeten und beruflich erfahrenen Pfarrern" besetzt wurde, die vor allem die protestantische Religion gegen den Einfluss der altgläubigen Nachbarschaft bewahren sollten.

Pfarrer Müller und seine Ehefrau Caroline hatten sieben Kinder, von denen Elisabeth das älteste ist. (Im Durchschnitt hatten Pfarrerehen im 19. Jahrhundert sechs Kinder)
Elisabeth besuchte nach entsprechender Vorausbildung die Evangelische Höhere Mädchenschule in Koblenz.

Es ist bemerkenswert, dass sie eine solche Ausbildung erhält und die Eltern für die Tochter nicht nur Ausschau nach einer standesgemäßen und „guten" Partie hielten, wie das in sehr vielen Pfarrfamilien zu dieser Zeit der Fall war.

Die Evangelische Höhere Stadtschule Koblenz, 1835 gegründet, wurde 1876 nach Auslagerung der Knabenabteilung zur „Evangelischen Höheren Töchterschule und Lehrerinnenbildungsanstalt Koblenz". 1883 wurde diese Bildungseinrichtung umbenannt in „Höhere Evangelische Mädchenschule und Lehrerinnenbildungsanstalt‘ (Daraus wurde 1902 die staatliche Hildaschule.)

Der Besuch dieser Lehranstalt war ab dem 6. Lebensjahr möglich. Mit dem 9. Lebensjahr sollte aber spätestens der Eintritt in die Schule erfolgen, da in diesem Alter für die Mädchen der Fremdsprachenunterricht (mit Französisch) begann.

Unterrichtsfächer der Mittel - und Oberstufe waren Religion, Deutsch, Französisch,
Englisch, Rechnen, Geschichte, Erdkunde, Naturwissenschaften, Zeichnen, Handarbeiten, Singen und Turnen.

An Schulgeld waren im Jahr 1878 zu zahlen: Klasse VI (heute 1. Klasse) 54 Mark,

Klasse I 110 Mark und für die Lehrerinnenausbildung 130 Mark.

(Es ist anzunehmen, dass Pfarrer Müller über ein lächerliches Einkommen von etwa 1800 bis (maximal) 2000 Mark verfügte. Mit sieben Kindern konnte man da keine großen Sprünge machen.)

Eine Kuriosität der Schule sei noch angemerkt:

1878 wurden die Schülerinnen zu Beginn des Schuljahrs vermessen und ihnen je nach Leibesgröße die Plätze im Klassenraum zugewiesen.

1893 besteht Fräulein Müller das Lehrerinnenexamen für Höhere Schulen an der Lehrerinnenbildungsanstalt in Koblenz und ist danach Volksschullehrerin in Winningen. Elisabeth gibt aber diese Stelle auf und zieht zu ihrer vermögenden Patentante. Beide wohnen in Köln. 1909 verstirbt die Tante und hinterlässt ihrem Patenkind ein beträchtliches Erbe. Das Geld nutzt Fräulein Müller für eine Weltreise. Nach Deutschland zurückgekehrt, wird sie Lehrerin an der Oberrealschule in Gießen.

(Seit 1882 gab es diesen Schultyp in Preußen, an dem kein Latein, sondern neue

Sprachen und besonders Naturwissenschaften vermittelt wurden. Seit 1902 wurde die Oberrealschule als gleichberechtigt neben Gymnasium und Realgymnasium anerkannt.)

Die Lehrerin Müller liebt Berge. Mit einem Bruder unternimmt sie 1920 eine Bergtour am Groß Venediger

Er ist mit 3.666 Metern der höchste Gipfel der Venedigergruppe in den Hohen Tauern. Die Tour zum Gipfel wird als technisch einfache Hochtour beschrieben, die allerdings über einen spaltenreichen Gletscher führt. Die Spalten sind manchmal schlecht zu erkennen. Es ist wichtig, bei dortigen Touren einen Seilpartner zu haben.

Bei diesem Unternehmen stürzt die 45 jährige so unglücklich ab, dass sie lange Zeit braucht, um wieder völlig gesund zu werden.

Stimmzettel vom 10. April 1938
Stimmzettel vom 10. April 1938
Zu Beginn der 30er Jahre wohnt sie wieder in Winningen. Hier engagiert sie sich vor allem im evangelischen Frauen - und Jungfrauenverein.
Solche und ähnliche Vereine entstanden Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts in sehr vielen Kirchgemeinden.
Jünglings - und Jungfrauenvereine hatten das Ziel, durch entsprechende Angebote und Aufgaben, den Kontakt junger Leute zur Kirchgemeinde nach der Konfirmation nicht abreißen zu lassen. Die Frauenvereine engagierten sich auf karitativem Gebiet. Frauen wie Elisabeth Müller fanden hier ein reiches Betätigungsfeld.
 
Am 10. April 1938 fand die Wahl zum Großdeutschen Reichstag und zugleich die Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich statt. Zur Wahl stand lediglich die nationalsozialistische Einheitsliste. Auf dem Stimmzettel befand sich folgender Aufdruck:

„Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?"

(darunter) JA NEIN

Vielfach gab es in den Wahllokalen keine Wahlkabine. Die Wähler wurden genötigt, ihre JA - Stimme öffentlich zu machen. Leere abgegebene Stimmzettel wurden als Stimmabgabe für die Nazipartei gewertet. Mithin ist es kein Wunder, dass 99,1% der Wähler mit JA stimmten.

Sich zu enthalten oder gar mit NEIN zu stimmen wurde als klarer Protest gegen die Regierung und deren Politik gewertet. Wer mit NEIN stimmte, musste mit Sprechchören vor seinem Haus, Beschimpfungen und dem Einwerfen der Fensterscheiben rechnen.

Die Lehrerin Elisabeth Müller in Winningen wagte es, mit NEIN zu stimmen. In der Nacht nach der Wahl schreit ein SA - Mann vor ihrem Fenster

„Hier wohnt das NEIN - Schwein".

Ihr Wahlverhalten hatte für sie persönlich Konsequenzen. Man überwacht sie, verbietet ihr private Nachhilfestunden zu erteilen, und kontrolliert ihre Post, um gegen sie Beweismaterial in die Hand zu bekommen.Und Elisabeth Müller steht in regem Briefwechsel mit Gleichgesinnten. Als sie am 20. Juli 1941 in einem Brief unter anderem die Zeile „In Köln waren ja Hungerrevolten. Es gab Erschießungen und Verhaftungen" schrieb, wird sie von der Gestapo verhaftet.

Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wurde von Göring im April 1933 geschaffen. Sie fungierte als eine eigenständige „Gesinnungspolizei‘ die zuständig war für die Aufspürung und Bekämpfung politischer Gegner des Nazi - Regimes.

Im Gesetz für die Gestapo von 1936 heißt es: „...Die Geheime Staatspolizei hat die Aufgabe, alle staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen und zu bekämpfen, das Ergebnis zu sammeln und auszuwerten, die Staatsregierung zu unterrichten und die übrigen Behörden über für sie wichtige Feststellungen auf dem laufenden zu halten... Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte..." Mithin konnte die Gestapo ohne Gerichtsbeschluss Personen verfolgen, in Schutzhaft nehmen oder in ein Konzentrationslager überstellen.

1944 zählte die Gestapo im ganzen Reich lediglich 32.000 Beschäftigte. Ohne die Mithilfe der großen Zahl von Denunzianten im Lande wäre es den Gestapobeamten nicht möglich gewesen, so viele „Staatsgegner" aufzuspüren und zu verhaften.

Geheimes Staatspolizeihauptamt
Geheimes Staatspolizeihauptamt
Elisabeth Müller ist eine von den 15.000 Personen, die im Oktober 1941 von der Gestapo in „Schutzhaft" genommen wurde.
Die sog. Schutzhaft (mit Verordnung vom Februar 1933 eingeführt) diente dazu, missliebige Personen zu inhaftieren. Durch die Schutzhaftverordnung wurden die Grundrechte und das Recht des Einzelnen auf Freiheit außer Kraft gesetzt.
Eigentlich hatte man vor, Fräulein Müller wegen Hochverrats dem Volksgerichtshof zuzuführen.

Der Volksgerichtshof wurde im April 1934 eingerichtet und diente der Aburteilung politischer Gegner der Nazi - Herrschaft. Der Sitz des Gerichts war in Berlin, doch ein Drittel aller Verfahren erfolgte auswärts. Das Urteil des Volksgerichtshofs war erste und zugleich letzte Instanz, Rechtsmittel waren nicht zulässig. Die Urteile dieses Gerichts waren von Willkür geprägt.

Man beließ es im Falle Müller aber bei einer Anklage wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz"
(Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der
Parteiuniformen" vom Dezember 1934 schränkte das Recht auf freie Meinungsäußerungen erheblich ein) vor einem Sondergericht in Koblenz.

Das Gericht verurteilt Elisabeth Müller am 26. Mai 1942 zu acht Monaten Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft, doch die Gestapo Koblenz fordert ihre Akten an, da sie mit dem „zu milden" Urteil nicht einverstanden ist. Mithin wird sie nicht nach Verbüßung der Strafe entlassen, sondern der Gestapo überstellt.

Am 8. September 1942 verbringt man sie ins Frauen - Konzentrationslager Ravensbrück, das man die „Hölle der Frauen nannte". (zwei Jahre später wird auch die Holländerin Corrie ten Boom (1892 - 1989) mit ihrer Schwester hierher gebracht.)

Dort erhält sie die Häftlingsnummer 13581 und einen Winkel, der sie als politischen Häftling auswies. Sie ist inzwischen 67 (!) Jahre alt.

Das Frauen - Konzentrationslager Ravensbrück (80 Km nördlich von Berlin gelegen) nahm im Mai 1939 die ersten Häftlinge auf (vor allem Ernste Bibelforscher, Sinti und Roma.) Später kamen polnische und ab Oktober 1941 russische Frauen hinzu. Das Lager war eigentlich für 3000 Frauen konzipiert, doch bereits 1940 hat man dort 4200 weibliche Gefangene eingesperrt, die in 16 Baracken hausen mussten. Zwischen 1939 und 1945 wurden im KZ Ravensbrück 132.000 Frauen und Kinder registriert.

Konzentrationslager Ravensbrück
Konzentrationslager Ravensbrück
1940 besuchte Himmler das inzwischen größte Konzentrationslager für Frauen und ordnete die Einführung der Prügelstrafe an. Die Frauen waren gezwungen, in Einrichtungen der Kriegswirtschaft und der Rüstungsindustrie hart zu arbeiten.
An vielen Frauen wurden grausame sog. medizinische Experimente durchgeführt.

Der 1. Mai wurde von den Nazis usurpiert und spielte als „Tag der Nationalen Arbeit" eine wichtige Rolle in deren „Festkalender". Am Tag der Nationalen Arbeit des Jahres 1943 hängte man am Maibaum in Winningen eine Strohpupe auf, die Elisabeth Müller darstellten sollte. Um den Hals trug die Puppe ein Schild mit der Aufschrift „So stirbt ein Volksverräter". Die Puppe wird dann verbrannt.

Zwischen 1942 und Ende 1944 verließen etwa 60 sog. schwarze Transporte das KZ Ravensbrück in Richtung verschiedener Vernichtungslager.
Da die nunmehr 69 jährige Elisabeth Müller nicht mehr zur Arbeit tauglich war, wurde auch sie am 6.Februar 1944 mit einem solchen „schwarzen Transport" mit 1000 anderen Häftlingen in das Konzentrationslager Lublin gebracht. Im Mai gelangt sie mit einem weiteren Transport nach Auschwitz.

Das letzte Lebenszeichen von ihr ist ein Brief an ihre Familie vom 17. September 1944.

Am 27. Januar 1945 wird das Lager Auschwitz durch Truppen der Roten Armee befreit. Für Elisabeth Müller aber ist es zu spät. Am 25. März stirbt sie im Alter von 70 Jahren an den Folgen der KZ - Haft.

Im Jahr 2000 wurde in der evangelischen Kirche, in der ihr Vater einst predigte, an der Wand neben dem Seiteneingang eine Tafel aus hellem Sandstein angebracht, auf der Folgendes zu lesen ist:

„ZUM GEDÄCHTNIS AN ELISABETH MÜLLER / GEBOREN AM 15.3. 1875
IN WINNINGEN / ERMORDET AM 25. 3.1945 IM KONZENTRATIONSLAGER!
AUSCHWITZ / SELIG SIND, DIE UM DER GERECHTIGKEIT WILLEN
VERFOLGT WERDEN: MATTH: 5, 10"

*****

 

 

 

Bildquellen:

 Winningen vom anderen Moselufer. Wikipedia, Klaus Graf, (CC BY 2.0)

Stimmzettel vom 10. April 1938, gemeinfrei 

Geheimes Staatspolizeihauptamt, Bundesarchiv, Bild 183-R97512 / CC-BY-SA 

Konzentrationslager Ravensbrück, Bundesarchiv, Bild 183-1985-0417-15 / CC-BY-SA 

 

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