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Der verliebte Schwan und 35 weitere Fabeln

Florian Russi
Mit Zeichnungen von Jean Gies

»Die Fabeln von Florian Russi spiegeln unser tägliches Verhalten wider. Sie regen an zum kreativen Nachdenken über sich selbst. Nicht belehrend, sondern unterhaltend. Deswegen sind Fabeln heute wieder so modern.«

Benedikt Otto, mdr

Der verliebte Schwan

Der verliebte Schwan

Florian Russi

Liebesgeschichten zwischen Wald- und Silbersee.

Über dem großen Waldsee kam ein Schwan angeflogen. Er war jung und kräftig. Stolz breitete er sein Gefieder aus und war sich sicher, dass niemand auf der Welt ihm gewachsen wäre. Doch er fühlte sich einsam. Einer wie er konnte sich nur richtig entfalten, wenn er eine Partnerin hatte, die ihm Gesellschaft leistete und ihn in all den Facetten seiner Schwanenpersönlichkeit verstand und akzeptierte. Er war zwar noch jung, aber nicht ganz unerfahren. Er sehnte sich nach Liebe und war zuversichtlich, dass sein Wunsch schon bald in Erfüllung gehen würde.
Tretboot in Form eines Schwans
Tretboot in Form eines Schwans

Während er noch seinen Träumen nachhing, tauchte vor ihm ein Tretboot auf, das von zwei Menschen gesteuert wurde. Er schaute auf und erkannte, das war‘s, hier kam sie auf ihn zu: die große Liebe. Er beschloss, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen. Nachdem das Boot an ihm vorbeigefahren war, schwamm er sofort hinterher. Die beiden Menschen beobachteten und sprachen über ihn. Sie nahmen ihn offensichtlich sehr ernst und winkten ihm zu. Er folgte ihnen in geringem Abstand zum Ufer des Sees, wo sie landeten und das Tretboot an einem Baumstamm befestigten. Von den Menschen, so vermutete er, hatte er keine Rivalität zu erwarten. Anders verhielt es sich mit den Schwänen, von denen jederzeit welche auftauchen und ihm seine Liebe streitig machen konnten. Also hob er den Kopf in die Höhe, gab schrille Töne von sich und umkreiste immer wieder das Tretboot.

Schnell sprach es sich bei den Schwänen in der Umgebung herum, dass sich einer von ihnen in ein Pedalo verliebt hatte. Sie kamen zum See geflogen und verspotteten ihn. Es eilten aber auch viele Menschen herbei, die sein Verhalten lustig fanden und ihn beobachteten, fotografierten und filmten.
Als der Herbst kam, nutzte der Verleiher, dem das Boot gehörte, eine kurze Abwesenheit des Schwans dazu, das Tretboot aus dem Wasser zu holen, um es reparieren zu lassen. Als der Schwan zurückkehrte und sein geliebtes Boot nicht mehr fand, fiel er in tiefe Trauer. Er umkreiste den See, flog mehrmals über das Wasser und suchte die Umgebung ab. Als er das Tretboot nirgendwo entdecken konnte, fragte er einen vorbeiziehenden Artgenossen, ob er etwas über den Verbleib seiner Geliebten wüsste. Der Angesprochene war ein Witzbold und behauptete, er habe gesehen, wie sie abtransportiert worden sei, und gehört, wie der Verleiher zu ihr sagte: »Ich bringe dich jetzt zum Silbersee.« Dieser See lag vom Waldsee weit entfernt.

Unser Schwan zögerte nicht lange und machte sich sogleich auf die beschwerliche Reise zum Silbersee. Als er dort angekommen war, hatte er zwar viele Pfunde an Gewicht verloren, konnte aber nirgendwo die Geliebte entdecken. Eine schwarze Schwänin kam auf ihn zu geschwommen und fragte ihn, warum er so bedrückt sei. Die Schwänin war ein Trauerschwan. »Sie passt genau zu meiner Stimmung«, dachte der Schwan. Nach einiger Zeit gelang es der Schwänin jedoch, ihn zu trösten. Die beiden verliebten sich ineinander und wurden ein Paar.

Im folgenden Jahr ließ die Ungewissheit über das Schicksal seiner früheren Geliebten dem Schwan jedoch keine Ruhe. Er lud die schwarze Schwänin ein, mit ihm zum Waldsee, dem »Ort seiner Jugend« zu fliegen. Als die beiden dort eintrafen, wimmelte es auf dem See von vielen Tretbooten, die alle die Form und das Aussehen von Schwänen hatten. Der findige Verleiher hatte sie herstellen lassen, weil er zu Recht ein Geschäft witterte. Seit sich die Liebesgeschichte des Schwans verbreitet hatte, drängten viele Menschen danach, einmal in einem Schwanenpedalo fahren zu können.

Stolz wies der Schwan seine Schwänin auf die vielen Boote hin. »Ich habe nur wenige Monate auf diesem See verbracht«, sagte er zu ihr. »Wie du aber sehen kannst, war ich sehr erfolgreich und habe eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen.« Dann flogen die beiden zum Silbersee zurück und sorgten sich dort um weitere kleine Schwäne.

Liebe macht zwar nicht blind, aber sie lässt viele Dinge in völlig anderem Licht erscheinen.

 

 

*****

Textquelle:

Russi, Florian: Der verliebte Schwan und 35 weitere Fabeln. mitteldeutscher verlag, 2016

Bildquellen:

Zeichnung "Der verliebte Schwan" von Jean Gies

Tretboot in Form eines Schwans, aufgenommen am Olympiasee im Olympiapark München Urheber: Standardizer via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

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